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Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 161
bevor er ihn gefasst habe, doch »einmal gefasst, findet er als Befehl seine rasche
Ausführung«.584 Das Geheimnis, sagt Canetti, ist »im innersten Kern der Macht«.585
Den oben zitierten Positionen im Historikerstreit um den Befehl zur »Endlösung«
liegen – unausgesprochen – die verschiedensten machttheoretischen Vorstellungen
zugrunde. Wer gegen den schon beinahe erreichten Konsens über strukturelle Sach-
zwänge weiter nach dem einen Befehl sucht, wird über eine andere Vorstellung von
Macht verfügen als die Anhänger des funktionalistischen Ansatzes. Funktionalisten
scheinen eine subjektlose, dezentrale Vorstellung von Macht zu haben, wie sie vor-
herrschend ist in einem Diskurs von Marx bis Foucault. Dass der Ausgangspunkt der
Macht allein beim Souverän, beim Staat, zu finden sei, schien Michel Foucault ein
überholtes historisches Konstrukt. Foucault hat auf die Vielfältigkeit von Machtbe-
ziehungen aufmerksam gemacht.586 Die Macht durchdringe alle Körper. Man müsse
sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper durchzieht,
nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung bestehe.587
Der klassische Machtbegriff hat sich, darauf weist auch Vilém Flusser hin, entschei-
dend verändert. Die moderne Macht begründe sich, so Flusser, auf dem Beherrschen
bestimmter Codes und (Entscheidungs-)Methoden«.588 Weitergeführt wurde dieser
Ansatz (allerdings ohne den zivilisationskritischen Ton Flussers) unter anderem von
dem Globalisierungstheoretiker Manuel Castells. Nach Castells sei Macht in ihrer
zentralisierten Erscheinungsform im Schwinden. Macht sei die Funktion eines end-
losen Kampfes »um die kulturellen Codes der Gesellschaft«. Anstelle eines vertikalen
Machtmodells vom Souverän oder dem Staat zu den einzelnen Subjekten erblickt
Castells bloß horizontale Netzwerke.589
Verglichen mit diesen Positionen mutet Canettis Machtbegriff geradezu archaisch
an. Macht ist bei ihm weder ort-, noch subjektlos, noch dezentriert. Elias Canetti
untersucht Gewalt, Geheimnis, Befehl als zentrale Elemente der Macht. Dabei löst
er den Befehl aus dem militärischen Kontext heraus und geht an seine anthropolo-
gischen Ursprünge, analysiert die Beziehung von Reiter, Pferd und Pfeil, von »Be-
fehlsstachel« und »Befehlsangst« : die Angst (der Diktatoren) vor der Umkehrung
des Befehls, jenem »Gefühl von Gefahr – dass alles, dem man befohlen hat, alles
584 Elias Canetti : Masse und Macht, Bd. 2 (Hamburg 1976), S. 24.
585 Ebenda, S. 17.
586 Michel Foucault : Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit (Berlin 1978),
S. 110f.
587 Ebenda, S. 35.
588 Vilém Flusser : Vermassung und Vernetzung, in : Der Stachel des Befehls, IV. Canetti-Symposium,
John Pattillo-Hess (Hg.) (Wien 1992), S. 117–121, hier : S. 121.
589 Vgl. Manuel Castells : Das Informationszeitalter, Bd. 1 : Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft
(Opladen 2001).
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
- Subtitle
- Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
- Author
- Hannelore Burger
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79495-0
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 292
- Keywords
- Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einführung 9
- Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
- Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
- Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
- Die josephinische Zäsur 26
- Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
- Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
- Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
- Die Vertretung der Tolerierten 39
- Das Judenamt 40
- Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
- Taufen und Nobilitierungen 47
- Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
- Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
- und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
- Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
- Juden als österreichische Reichsbürger 62
- Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
- Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
- Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
- Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
- Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
- Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
- Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
- Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
- Paradoxe Fremde 85
- Die dualistische Verschärfung 86
- Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
- Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
- Heimatrecht und soziale Frage 91
- Der Fall Dr. Hugo Stark 92
- Der Fall Julia Singer 93
- Der Fall Lea Weitzmann 95
- »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
- Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
- Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
- Kafkas Sprachen 100
- Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
- Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
- Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
- Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
- Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
- Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
- Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
- Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
- Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
- Juden im Ersten Weltkrieg 130
- Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
- Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
- Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
- Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
- Signaturen der Vertreibung 152
- Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
- Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
- Der Fall Raviv 172
- Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
- Der Fall Elias Canetti 188
- Der Fall Manès Sperber 200
- Semantische Nachbemerkungen 213
- Verzeichnis der Archive 222
- Literaturverzeichnis 223
- Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
- Zeittafel 245
- Register 264
- Personen 264
- Orte 269
- Sachen 271