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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
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Page - 191 - in Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden - Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart

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Staatenlosigkeit als Massenschicksal 191 dem jüdischen Teil des Währinger Friedhofs zeugen)669, bestimmte sich das Auf- enthaltsrecht der Wiener Juden bis 1848 durch das Josephinische Toleranzpatent von 1782, was bedeutete : Führung von Familienlisten, die Zahlung hoher Steuern und das regelmäßige Ansuchen um Verlängerung der Toleranz. Um sich all diesen »Bedrückungen« zu entziehen, kam es immer wieder vor, dass Wiener Juden, deren Toleranz nicht verlängert worden war, oder mährische Juden, die nicht im Besitz einer Familienstelle waren, in die Türkei auswanderten, dort osmanische Untertanen wurden und später mit einem türkischen Pass nach Österreich zurückkehrten, um auf diese Weise ein unbeschränktes Aufenthaltsrecht in Wien zu erwerben.670 Nun hatte zwar die sephardische Gemeinde, als Elias Canetti in Wien zur Schule ging, längst schon ihre einst privilegierte Existenz eingebüßt (auch wenn ihre im maurischen Stil errichtete Synagoge in der Zirkusgasse, die Canetti mit seinem Großvater besuchte, die prächtigste war), doch ein Abglanz der einstigen Stellung »türkischer Juden« war auch jetzt noch spürbar. Zwar waren ihre Privilegien inzwi- schen obsolet geworden, doch bestimmten diese nach wie vor ihr Lebensgefühl. So berichtet Canetti an keiner Stelle über Diskriminierung, weder als Ausländer noch als Jude, nur einmal über sein tiefes Erschrecken vor dem Elend galizischer jüdischer Flüchtlinge, die im Kriegsjahr 1915/16 massenhaft vor der russischen Front flüch- teten und in Wien, vorzugsweise im zweiten Bezirk, Zuflucht suchten. Doch den Antisemitismus, der durch das Zuströmen verelendeter »Ostjuden« neue Nahrung erhielt, hat er, sofern er ihn wahrgenommen hat, noch sehr lange, darin seiner stol- zen Mutter ähnlich, nicht auf sich bezogen. Als Elias Canetti  – nach den goldenen Jahren in der Schweiz und seinem Abitur in Frankfurt am Main  – im Jahr 1924 nach Österreich zurückkehrte671, um in Wien auf Wunsch seiner Mutter Chemie zu studieren, war die Welt eine andere geworden. Die beiden transnationalen, multiethnischen Reiche  – die Habsburgermonarchie wie auch das Osmanische Reich  – existierten nicht mehr. Seine Rückkehr erfolgte in die junge Erste Republik, an deren pulsierendem intellektuellem und politischem Leben Canetti begeistert teilnahm. Bei einer Karl Kraus-Lesung im April 1924  – ei- nem der großen Wiener Events jener Zeit  – lernte er seine zukünftige Frau Veza Taubner-Calderon kennen. Beide erkannten einander an ihren Namen sofort als gleiche, als Spaniolen. Die erste Frage, die sie an ihn richtete : »Sind Sie Schweizer ?« traf ihn, nach eigenem Bekunden, tief. Canetti beantwortete sie mit einem »Leider nicht«. Mit dem einen Wort leider habe er mehr verraten, »als irgendein Mensch da- 669 Vgl. Tina Walzer : Weißbuch jüdischer Friedhöfe Österreichs (Wien 2002). 670 Vgl. Heindl/Saurer, Grenze und Staat, S.  673. 671 Der Meldezettel vom 22. Juli 1924 weist ihn und seinen Bruder Georg (George) als »türkisch« aus. WStLA, Canetti.
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Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden
Subtitle
Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart
Author
Hannelore Burger
Location
Wien
Date
2014
Language
German
License
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-79495-0
Size
15.5 x 23.5 cm
Pages
292
Keywords
Heimatrecht, Staatsbürgerschaft, Juden, Österreichische Juden, Judenemanzipation, Toleranz, Josephinische Reformen, Österreichische Monarchie, Ausgleich, Österreich-Ungarn, Erste Republik, Nationalsozialistische Judenverfolgung, Ausbürgerung
Categories
Geschichte Historische Aufzeichnungen

Table of contents

  1. Einführung 9
  2. Von der Epoche des josephinischen Reformabsolutismus bis zum Ende des Neoabsolutismus 15
  3. Die Frage der jüdischen Bürgerrechte in der Aufklärung 15
  4. Exkurs : Juden in den österreichischen Ländern vom Hochmittelalter bis in das Zeitalter der Emanzipation 19
  5. Die josephinische Zäsur 26
  6. Das böhmisch-mährische System der Familienstellen 29
  7. Das Toleranzpatent für die Juden Galiziens 34
  8. Anhaltende »Verschiedenheit des politischen Zustandes« 38
  9. Die Vertretung der Tolerierten 39
  10. Das Judenamt 40
  11. Die Hofkanzlei als Hüterin der Toleranz 45
  12. Taufen und Nobilitierungen 47
  13. Die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechts 51
  14. Die staatsbürgerliche Stellung der Juden im Vormärz
  15. und das Auftauchen der »Judenfrage« 53
  16. Die bürgerliche Revolution von 1848 und die veränderte staatsbürgerliche Stellung der Juden 59
  17. Juden als österreichische Reichsbürger 62
  18. Inklusion und Exklusion von Juden in der Zeit des Neoabsolutismus 64
  19. Das Heimatrecht der österreichischen Juden 70
  20. Die Sonderstellung der »türkischen« Juden 74
  21. Die Entwicklung von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Epoche des Ausgleichs 77
  22. Der Anteil der Juden an den Einbürgerungen 77
  23. Die Vermehrung der jüdischen Bevölkerung in Cisleithanien 80
  24. Die rechtliche Gleichstellung der Juden durch das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger im Dezember 1867 82
  25. Rückkehr in die »verbotene Stadt« 83
  26. Paradoxe Fremde 85
  27. Die dualistische Verschärfung 86
  28. Motive für den Erwerb von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 88
  29. Heimatrecht und Staatsbürgerschaft jüdischer Frauen 90
  30. Heimatrecht und soziale Frage 91
  31. Der Fall Dr. Hugo Stark 92
  32. Der Fall Julia Singer 93
  33. Der Fall Lea Weitzmann 95
  34. »Schutzgenossen« und »Untertanen de facto« 96
  35. Zur Ambivalenz von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft 97
  36. Die Nationalitätenkonflikte der Verfassungszeit und die (sprach-)nationale Identität der Juden 100
  37. Kafkas Sprachen 100
  38. Die Bedeutung von Bildung im Judentum 103
  39. Sprache, Nationalität und Recht im Unterrichtswesen 105
  40. Jüdische Kinder in den Mühlen des Nationalitätenkampfes 109
  41. Der Anteil jüdischer Schüler am höheren Bildungswesen 112
  42. Sprachen, Nationalitäten, Identitäten 114
  43. Das mehrsprachige Unterrichtswesen in der Bukowina 115
  44. Der Verdacht gegen die Mehrsprachigkeit 116
  45. Die Ethnisierung der Nationalitätenkonflikte 117
  46. Die Wiederkehr der »Judenfrage« in der Epoche des Ausgleichs 119
  47. Juden im Ersten Weltkrieg 130
  48. Theorie und Praxis von Heimatrecht und Staatsbürgerschaft in der Ersten Republik 132
  49. Die Aus- und Einbürgerungen des autoritären Ständestaates 141
  50. Verfolgung, Vertreibung, Ausbürgerung, Vernichtung während der NS-Herrschaft 146
  51. Die Implementierung der Nürnberger Gesetze in Österreich 146
  52. Signaturen der Vertreibung 152
  53. Die Ausbürgerung und der Befehl zur »Endlösung« 155
  54. Die Wiederherstellung der Staatsbürgerschaft in der Zweiten Republik 166
  55. Der Fall Raviv 172
  56. Staatenlosigkeit als Massenschicksal 187
  57. Der Fall Elias Canetti 188
  58. Der Fall Manès Sperber 200
  59. Semantische Nachbemerkungen 213
  60. Verzeichnis der Archive 222
  61. Literaturverzeichnis 223
  62. Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen 244
  63. Zeittafel 245
  64. Register 264
  65. Personen 264
  66. Orte 269
  67. Sachen 271
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