Page - 48 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung,
1899–191848
gültige Naturgesetze anzunehmen erlaubte und der deterministischen Naturerklärung kei-
nen automatischen Vorzug vor einer statistischen Beschreibung einräumte.«89
Anders als viele ihrer Kolleginnen und Kollegen im Ausland akzeptierten die meisten
Mitglieder des Exner-Kreises die indeterministische Natur der physikalischen Gesetze
als Denkmöglichkeit, und zwar lange bevor dies zur allgemein akzeptierten Gewissheit
in der theoretischen Physik wurde.
Doch auch bei der experimentellen Arbeit zeigten sich Gemeinsamkeiten, die den
Exner-Kreis von anderen zeitgenössischen Forschungskollektiven unterschieden. So be-
reitete es den Schülern Exners keine Mühe, von der Mikro- auf die Makroebene der
Physik zu wechseln. Diese Besonderheit trat vor allem bei denjenigen Exner-Schülern
deutlich hervor, die geophysikalische Fragen erforschten. Elisabeth Crawford erklärt das
Phänomen als eine Folge der frühen Ausbildung in luftelektrischen Fragen, welche die
meisten Exner-Schüler durchlaufen hatten. Die atmosphärische Elektrizität, ein mikro-
physikalisches Phänomen, wurde unter natürlichen Bedingungen gemessen und unterlag
daher lokalen meteorologischen, geologischen und anderen Veränderungen, die sich auf
der makrophysikalischen Ebene abspielten.90 Doch auch Stefan Meyer, der praktisch
sein gesamtes Berufsleben der Radioaktivitätsforschung widmete, unternahm einen Ex-
kurs in die Makrophysik. In den 1930er Jahren, noch bevor er in seinem Ischler Exil von
der Möglichkeit experimentell zu forschen abgeschnitten war, beschäftigte er sich inten-
siv damit, das Alter der Sonne und der Planeten experimentell zu bestimmen.91
Physikalische Daten zu sammeln und zu systematisieren, spielte im Rahmen der
Experimentalkultur, die der Exner-Kreis pflegte, eine zentrale Rolle. Zuweilen geriet
die Datensammlung sogar fast zum Selbstzweck, und damit das ursprünglich formu-
lierte Forschungsziel aus dem Blick. Ein Beispiel sind die spektralanalytischen Arbeiten
Eduard Hascheks, der im Verlauf mehrerer Jahre die Wellenlänge von annähernd
100.000 Spektrallinien mit großer Präzision bestimmte. Seine mit Exner gemeinsam
publizierten Wellenlängen-Tabellen waren in der Fachwelt schon vor dem Krieg ein
wertvolles Hilfsmittel.92 Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Kärrnerarbeit war in-
des der Plan gewesen, Meteoriten zu untersuchen. Doch weder Exner noch Haschek
setzten dieses Vorhaben in die Tat um.93
89 Stöltzner 2012, 311–312. Siehe weiterführend zur probabilistischen Physik in Wien Stöltzner 2003, 2002
u. 1999 sowie Coen 2006.
90 Vgl. Crawford 1992a, 101. Siehe auch Benndorf 1937, 10.
91 Er korrespondierte dazu mit Walter Nernst. Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 17, Fiche 265 :
Meyer an Nernst vom 20.10.1936.
92 Vgl. Exner/Haschek 1904 ; Exner/Haschek 1911/12.
93 Vgl. Karlik/Schmid 1982, 74–75 ; Benndorf 1937, 12.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369