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Das Zentrum formiert sich 59
hin zu dokumentieren. Als Rutherford der Aufforderung nicht nachkam, sein Foto für
die Ahnengalerie berühmter Radioaktivisten im Institut bereitzustellen, drohte ihm
Meyer scherzhaft : »Hofrat Exner meinte sogar man solle dazu alle Mittel der Erpres-
sung zu Hilfe nehmen, um Sie zur Zusendung zu bewegen, wie die freilich nicht ernst
zu nehmende Drohung, das dortige Radium aufzukündigen.«148 Die von der Akade-
mie entliehenen Präparate ermöglichten es Rutherford, von Manchester aus das Spiel
der Großen auf dem Feld der Radioaktivitätsforschung maßgeblich zu bestimmen.
Kaum ein Mitglied der internationalen, aber auch keines der Radioaktivistengemein-
schaft Österreich-Ungarns verfügte über genügend wissenschaftliches Ansehen, um
mit ähnlich bedeutenden Leihgaben rechnen zu können. Außerdem untersagten die
Statuten des Instituts für Radiumforschung seit 1910 den Verkauf und Verleih von
Radium und anderen Muttersubstanzen wie Thorium oder Ionium nach auswärts.149
Der Radiumvorrat des Instituts sollte in erster Linie der Forschung vor Ort zugute
kommen. Das Verbot wurde in vereinzelten Fällen allerdings umgangen. So erhielt die
dem Institut eng verbundene Berliner Physikerin Lise Meitner von Georg von Hevesy
angeblich hinter dem Rücken Meyers aus den Beständen des Instituts ein stärkeres
Radium D-Präparat, mit dessen Hilfe sie β-Strahlen maß.150 Während die stärksten
Präparate in Wien blieben, zeigte sich Meyer bei den radioaktiven Zerfallsprodukten
großzügiger. Das Institut für Radiumforschung verfügte aus der Atzgersdorfer Radi-
umproduktion über eine größere Menge Radioblei, das anfangs fast ausschließlich an
die Mitglieder des Exner-Kreises verliehen wurde, also vorerst im Land verblieb. Später
fanden die Radiobleilösungen den Weg in kleinere deutsche Laboratorien, wie zum
Beispiel nach Halle, Göttingen oder Giessen. Vereinzelt verlieh das Institut auch radio-
aktive Gesteinsproben.151 Im Gegenzug gelangten Informationen, welche Ergebnisse
mittels des Materials erzielt wurden, aus dem In- und Ausland nach Wien.152
Wie wichtig es für den Fortgang der Forschungsarbeit war, möglichst ungehindert auf
radioaktive Substanzen zugreifen zu können, zeigt ein Vergleich der Forschungsagenden
in den Zentren der Radioaktivitätsforschung Paris, Berlin und Wien mit denen in der
Peripherie. In Paris wurde ein breites Spektrum chemisch-physikalischer Fragestellungen
bearbeitet. Marie Curie widmete sich hauptsächlich der Untersuchung der α- und später
148 CUL, RC, Add 7653, M 163 : Meyer an Rutherford vom 18.10.1913.
149 Vgl. AÖAW, Institut für Radiumforschung, K 1 : Stiftungsbrief und Statuten. Vgl. auch den ablehnen-
den Bescheid in AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 19, Fiche 314 : Meyer an Svedberg vom 22.2.1913.
150 Vgl. Meitner an Hahn vom 25.4.1915, zitiert bei Ernst 1992, 45.
151 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 29, Fiche 397 : Entlehnungen ; ebd., K 21, Fiche 341 : Zur
Kenntnis des Aufenthaltes radioaktiver Produkte aus dem Besitz der k. Akademie der Wissenschaften,
undatiert.
152 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 15, Fiche 243 : Laub an Meyer vom 21.4.1912.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369