Page - 197 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Das Zentrum behauptet sich 197
Dass deutsche Physiker und Physikerinnen sich so wenig für die Ergebnisse der Wiener
Gruppe interessierten, mag eine Nachwirkung der langjährigen Kontroverse mit dem
Cavendish Laboratory gewesen sein. Die Kontroverse hatte das wissenschaftliche An-
sehen der Wiener Gruppe gerade auch im Deutschen Reich, wo viele Physiker sich an
den Ergebnissen Rutherfords und Chadwicks orientierten, nachhaltig geschädigt. In
der 1936/37 veröffentlichten, dreiteiligen Übersicht über die zeitgenössische internati-
onale Kernforschung von Milton S. Livingston und Hans Bethe, der sogenannten
Bethe-Bibel, wurden Daten der Wiener Forschungsgruppe unter Verweis auf deren fast
vollständig fehlerhafte Messresultate explizit nicht berücksichtigt.91 In Paris ging man
mit den Wiener kernphysikalischen Arbeiten unvoreingenommener um : Frédéric Jo-
liot interessierte sich beispielsweise für die Arbeiten Robert Trattners mit der Wilson-
kammer zur Zählung von α- und H-Strahlen, die Marietta Blau ihm anlässlich ihres
Besuchs in Paris übergab.92 Auch in späteren Jahren verfolgte er die kernphysikalische
Forschungsarbeit der Wiener Gruppe genau.93
Nachdem die Gruppe um Fermi in Rom 1934 radioaktive Nuklide durch Beschuss
schwerer Atomkerne mit Neutronen erzeugt hatte, wandte sich in Wien Rona dieser
Fragestellung zu. Sie suchte ähnlich wie die Berliner Gruppe um Hahn und Meitner
sowie die Pariser Gruppe um Irène Joliot-Curie, Hans von Halban und den Schweizer
Physiker Peter Preiswerk nach α-Teilchen durch den Beschuss von Thorium mit Neu-
tronen.94 Rona verfügte ebenso wie Hahn und Meitner sowie die Joliot-Curies über
schwache Radium-Berylliumröhrchen mit bis zu 1.000 Milligramm Radium, deren
Radioaktivität weit unter der natürlichen Aktivität des Thoriums lag, »so dass auch
geringe Verunreinigungen oder die zwangsläufig entstehenden natürlichen Thorium-
zerfallsprodukte die Aufklärung der Prozesse und die Bestimmung der Halbwertszeiten
der Umwandlungsprodukte recht schwierig machten«.95 Möglicherweise waren die
schwachen Präparate ausschlaggebend dafür, dass Ronas Versuche ohne Ergebnis blie-
ben.96 Denn bei Versuchen mit stärkeren, künstlich erzeugten Strahlungsquellen fie-
len die Verunreinigungen mit Resten der zahlreichen natürlichen Thoriumzerfallspro-
dukte doch weniger ins Gewicht.
91 Vgl. Livingston/Bethe 1937, 295.
92 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 175 : Blau an Meyer vom 29.4.1933. Siehe auch
Trattner 1933.
93 Vgl. MC, FFJ, F 11 : Bibliographie 1938–1953 : Classeurs de bibliographie 1938–1953.
94 Vgl. Föyn/Kara-Michailova/Rona 1935 ; Neuninger/Rona 1935.
95 Hahn 1962, 123–124.
96 Eine Forschungsgruppe an der University of Michigan unternahm ähnliche Versuche, zusätzlich zu Bom-
bardierungen von Uran mit Neutronen, die in einem Zyklotron gewonnen worden waren. Vgl. Weart
1983, 108.
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book Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)"
Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369