Page - 220 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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Kernforschung in Österreich,
1932–1938220
nicht beachtet. Durch die Entscheidung für Würzburg wurde es, so Meyer weiter, »uns
Oesterreichern, so gerne wir auch kommen wollten, praktisch unmöglich derzeit nach
Deutschland zu fahren.«184 Die politische Situation brachte für die Physiker und Phy-
sikerinnen in Österreich nicht nur berufliche Nachteile mit sich. Sie war für Stefan
Meyer und viele seiner Kollegen, »die [wie er] […] eigentlich in beiden Staaten zu-
hause sind«, auch persönlich eine deprimierende Erfahrung.185
Finanzielle Gründe waren vermutlich ausschlaggebend, dass kaum ein Physiker aus
Österreich nach Würzburg reiste. Hinzu kamen in einzelnen Fällen aber auch politi-
sche Motive : Denn österreichische Regierungsstellen griffen, in dem Bestreben, die
Kontakte illegal in Österreich tätiger Nationalsozialisten mit dem Deutschen Reich zu
unterbinden, aktiv in den grenzüberschreitenden Reiseverkehr ein. Das Bundeskanz-
leramt in Wien (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit) beeinflusste durch
Ausreisegenehmigungen, wer zu internationalen Kongressen, namentlich im Deut-
schen Reich reisen durfte und wer nicht. Gerhard Kirsch, der ursprünglich als Leiter
der Tagungssektion Atomphysik vorgesehen war, wurde im September 1933 »aus
grundsätzlichen Erwägungen« heraus die Bewilligung zur Teilnahme am Würzburger
Physiker- und Mathematikertag der DPG verweigert. Kirschs Aktivitäten für die nati-
onalsozialistische Bewegung in Österreich waren den Wiener Behörden offenbar be-
kannt. Er gehörte der österreichischen NSDAP seit November 1923 bis zu ihrem
Verbot im Juni 1933 an. Spätestens seit 1933 war er zudem Anführer einer Keimzelle
des Nationalsozialistischen Lehrerbundes an der Universität Wien.186
Während die einen von den Behörden des autoritären Ständestaates aktiv daran ge-
hindert wurden, ins nationalsozialistische Deutschland zu reisen, verzichteten andere
aus freien Stücken darauf. Victor Hess, der seine Teilnahme schon früh an die Bedin-
gung einer »reinliche[n] – auch zeitliche[n] Scheidung der Verhandlungen über Atom-
zertrümmerung und Ultrastrahlen« geknüpft hatte, weigerte sich aus Protest über die
politischen Verhältnisse im Deutschen Reich, an der Würzburger Tagung mitzuwir-
ken.187 Er nahm stattdessen an der Schweizer Naturforschertagung teil, auf der er ei-
nige ausländische Kollegen wieder traf.188 Es kamen also mehrere Gründe zusammen,
weshalb die Tagung praktisch ohne österreichische Beteiligung stattfand. An Kirschs
und Hess’ Stelle referierten in Würzburg reichsdeutsche Physiker über ihre Ergebnisse
in der Neutronen-, Atomzertrümmerungs- und Höhenstrahlungsforschung.189
184 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 11, Fiche 169 : Meyer an Scheel vom 7.9.1933.
185 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 14, Fiche 223 : Meyer an Hönigschmid vom 24.6.1933.
186 Vgl. Galison 1997a, 153.
187 AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206 : Hess an Meyer vom 16.3.1933.
188 Vgl. AÖAW, FE-Akten, IR, NL Meyer, K 13, Fiche 206 : Hess an Meyer vom 1.6.1933.
189 Vgl. DPG 1933, Nr. 3, 29–35.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369