Page - 297 - in Kerne, Kooperation und Konkurrenz - Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
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An der Peripherie des neuen Netzwerks 297
Unterdessen hielten sich nach dem Krieg hartnäckig Gerüchte, dass die Wiener
Gruppe während des Krieges einen Versuchsreaktor im Hof des Instituts für Radium-
forschung gebaut habe. Dies ist angesichts der Materialknappheit, unter der die Wie-
ner Kernforschung litt, mehr als unwahrscheinlich : Die dort vorhandenen 300 bis 400
Kilogramm Uran und die geringen Mengen an Schwerem Wasser reichten nicht aus,
um eine funktionsfähige »Uranmaschine« zu bauen.322 Über etwaige besondere Ma-
terialzuteilungen, mit denen die Gruppe einen Versuchsreaktor hätte bauen können,
ist nichts bekannt. Der Wettlauf, wer zuerst einen kritischen Reaktor bauen würde,
spielte sich zwischen den Gruppen um Werner Heisenberg in Berlin/Haigerloch und
Kurt Diebner in Gottow ab ; die Wiener Ansätze waren weit abgeschlagen. Wie der
Patentstreit mit Wirtz zeigt, wurde bei der Auseinandersetzung um Reaktorkonzepte
zwar mit unfairen Mitteln gekämpft, doch für die Umsetzung ihres Konzepts mangelte
es der Wiener Gruppe schlicht an den erforderlichen Ressourcen.
Wie schon im Fall der fotografischen Methode, spiegelte die Materialknappheit die
periphere Lage der Wiener Gruppe wider : Zu groß war die geographische Distanz zur
Reichshauptstadt Berlin, in der die maßgeblichen Entscheidungen über die Verteilung
kriegswichtiger Güter getroffen wurden. Daneben fehlten die im polykratischen System
des Nationalsozialismus so entscheidenden Verbindungen zu einflussreichen Persönlich-
keiten, die sich für die Wiener Interessen eingesetzt hätten. Der fragmentarische Nachlass
Georg Stetters erlaubt keine Rückschlüsse darauf, dass Stetter mit Schlüsselfiguren wie
Walther Gerlach, Abraham Esau oder Albert Speer ähnlich enge Kontakte pflegte wie
Heisenberg und Diebner. Ebensowenig gibt es Dokumente, die belegen, dass Stetter mit
militärischen Institutionen zusammenarbeitete, um beispielsweise nukleare Sprengstoffe
zu entwickeln. Willibald Jentschke erwähnte in einem Interview mit dem britischen
Historiker David Irving 1965, dass leitende Mitarbeiter des HWA zu keinem Zeitpunkt
während des Krieges nach Wien gekommen wären. Es hätten lediglich lose organisatori-
sche Verbindungen bestanden.323 Gleichwohl hielten sich nach dem Krieg die Gerüchte,
dass Georg Stetter und andere am Bau von Kernwaffen beteiligt gewesen seien.
In der wissenschaftshistorischen Literatur wurde ausführlich diskutiert, welche
Rolle militärische Anwendungsmöglichkeiten der Kerntechnik im Rahmen des deut-
schen Uranvereins spielten.324 Im Zentrum steht die Frage, inwieweit die beteiligten
322 Vgl. Karlsch 2012, 144–145. Das Material war vom Oberkommando des Heeres zur Verfügung gestellt
worden, um Neutronenexperimente (den Neutronenertrag bei Kernspaltungen) durchzuführen. Von
dem Material wurde bis Kriegsende nur ein kleiner Teil verbraucht. Vgl. NARA, RG 77, Box 174, Entry
22 : Interim Report from 1st Sept. 1946, Survey over Intelligence Aspects of Atomic Energy.
323 Vgl. Gespräch mit Prof. Willibald Jentschke vom 31.10.1965, zitiert bei Karlsch 2005, 38.
324 Vgl. Walker 2005 ; Karlsch 2005 ; Rose 2001 ; Schaaf 2001 ; Walker 1996 ; Auer 1995 ; Hoffmann 1992 ;
Walker 1990a ; Brauch 1984.
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Kerne, Kooperation und Konkurrenz
Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Title
- Kerne, Kooperation und Konkurrenz
- Subtitle
- Kernforschung in Österreich im internationalen Kontext (1900–1950)
- Author
- Silke Fengler
- Editor
- Carola Sachse
- Mitchell G. Ash
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2014
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-205-79512-4
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 380
- Keywords
- Institute for Radium Research, nuclear research in Austria, History of science, National Socialism, The Cold War --- Radiuminstitut, Kernforschung in Österreich, Wissenschaftsgeschichte, Nationalsozialismus, Wissenschaftskooperation, Kalter Krieg
- Categories
- Naturwissenschaften Chemie
- Naturwissenschaften Physik
Table of contents
- 1. Kernforschung in Österreich im Spannungsfeld von internationalerKooperation und Konkurrenz 9
- 2. Österreich-Ungarn und die internationale Radioaktivitätsforschung, 1899–1918 30
- 3. Von der Radioaktivitäts- zur Atomzertrümmerungsforschung, 1919–1932 93
- 3.1 Die Naturwissenschaften in Österreich nach 1918 94
- 3.2 Das regionale Netzwerk festigt sich 97
- 3.3 Das Zentrum (re-)formiert sich 109
- 3.4 Das Zentrum in Aktion : Atomzertrümmerungsforschung als internationales Projekt 140
- 3.5 Die Anfänge der Atomzertrümmerungsforschung als Geschäft der Reichen 176
- 4. Kernforschung in Österreich, 1932–1938 178
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 4.1.1 Neue Standards für die Internationale Radiumstandard- Kommission 179
- 4.1.2 Neue Mitglieder für die Internationale Radiumstandard- Kommission 182
- 4.1.3 Der Ruf nach höchsten Spannungen in der internationalen Kernphysik 185
- 4.1.4 Die Wiener Reaktionen 190
- 4.1.5 Das Polonium-Netzwerk im Dienst der Neutronenforschung 193
- 4.1.6 Höhenstrahlungsforschung zwischen Peripherie und Zentrum 200
- 4.2 Das Zentrum verliert den Anschluss 206
- 4.3 Kernforschung in Österreich als nationales Projekt 226
- 4.4 Wüstentrockenheit auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung 234
- 4.1 Das Zentrum behauptet sich 179
- 5. Kernforschung im Kontext des »Dritten Reiches«, 1938–1945 236
- 6. Kernforschung für die Alliierten – ein Epilog 307
- 7. Schluss 322
- 8. Anhang 334
- Abkürzungsverzeichnis 334
- Verzeichnis der benutzten Archivbestände 336
- Literaturverzeichnis 340
- Personenregister 369