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die Wiener Burgschauspielerin Else Wohlgemuth ab,58 die nach dem „Anschluss“
emigrieren musste und 1945 nach Wien zurückgekehrt war. Mit dieser Themen-
wahl dokumentiert sich bereits Kraus’ Interesse am Exil, das er später mit der
ÖGL breitangelegt verfolgen sollte.
Kraus hatte zwischen 1938 und 1945 in gewisser Weise eine Art „innere
Emigration“ vollzogen, wenn er retrospektiv davon spricht, dass ihm „durch die
Bücher und das Theater, die Musik, die Bildende Kunst [...] deutlich [wurde],
daß diese Höllensituation, in der ich unverdient einen einigermaßen ruhigen
Winkel zugewiesen erhalten hatte, nicht die Normalität des Lebens war“.59 In
seinen Tagebüchern notiert er, dass die restriktive Kulturpolitik des „Dritten
Reichs“ bei ihm einen „Kulturschock“ ausgelöst habe, da „man [...] den V[ölki-
schen]B[eobachter] und all den theatralischen Kulturblödsinn [las], ohne ande-
res zu kennen“.60
Aber auch dem anderen totalitären System des 20. Jahrhunderts, dem Kom-
munismus stalinistischer Prägung, stand Kraus, damit auch dem gesellschaftli-
chen Konsens der Zweiten Republik folgend, in dem Antikommunismus zum
fixen Repertoire der politischen Kultur zählte, ablehnend gegenüber. Dieser
Antikommunismus ging u. a. auch mit der Befreiung Wiens durch die Rote
Armee und die Besatzungszeit einher. Wie er Sperber gegenüber äußerte, habe
er „den Greuel vor der russischen Armee, vor der ich 1945 auf lebensgefährliche
Weise aus Wien geflohen bin, bis heute nicht aus den Knochen verloren“ und er
hält in den 1970er Jahren, als Alexander Solschenizyns Archipel Gulag erscheint,
über die antibolschewistische Propaganda der Nationalsozialisten fest, dass man
im „Bereich Hitlers über die stalinistischen Ungeheuerlichkeiten die meiste
Wahrheit“ habe erfahren können.61
Beinahe wehmütig erinnert sich Kraus in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre
an jene literarische Aufbruchsstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit, die
jedoch bald aufgrund ökonomischer und politischer Konstellationen stagnieren
sollte:
Ich dachte nachher an unsere Aufbruchszeit nach dem Krieg, an unseren Enthu-
siasmus, sich für Leute einzusetzen, an unsere Offenheit, unsere Illusionen. […]
Die Verlage der Fünfzigerjahre gingen ein, Erwin Müller, Bellaria, Amalthea, Sti-
asny, die Zeitschriften starben – ‚Silberboot‘, ‚Der Turm‘, ‚Der Plan‘. [Hans] Lebert,
[Milo] Dor, [Harald] Zusanek, [Kurt] Klinger, [Herbert] Eisenreich, [Herbert]
58 Vgl. Wolfgang Kraus: Else Wohlgemuth und das Wiener Burgtheater. Univ.-Diss., Wien 1947.
59 Ders.: Vortrag zum 50-jährigen Maturajubiläum am 4. April 1992, NL WK.
60 Ders.: Tagebuch, 6. August 1977, NL WK.
61 Ders. an Manès Sperber, 20. Jänner 1975, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Biographische Einführung 25
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437