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Die Generierung und Fokussierung von Aufmerksamkeit, Zuschreibung von Bedeu-
tung und Prominenz, die Wirkung symbolischer Rituale, die Herausbildung sozialer
Netzwerke usw. sind abhängig vom historisch und sozial definierten Raum, in dem
sie verstanden und angewendet werden. Für die AkteurInnen bedeutet das Spielfeld,
auf dem Positionen verhandelt, Macht und Einfluss verteilt und Gepflogenheiten
ausgelebt werden, letztlich ein differenziertes und differenzierbares Umfeld für Pro-
duktion, Verarbeitung, Vermittlung und Konsumption von Literatur.6
Dieses literaturbetriebliche Umfeld lag nach 1945 noch weitgehend brach. Vor
allem der jüngeren Generation von Autorinnen und Autoren wurde nur wenig
Aufmerksamkeit für ihre Werke zuteil, weshalb sich Klagen der Akteurinnen
und Akteure über den österreichischen Literaturbetrieb der unmittelbaren Nach-
kriegszeit häuften und auch während des Wiederaufbaus bzw. nach dem Staats-
vertrag 1955 wurde dieser als unorganisiert oder gar nicht vorhanden charak-
terisiert.
Hans Weigel, der als Förderer der jungen Nachkriegsliteratur und Integrati-
onsfigur der österreichischen Literatur nach 1945 gilt, bemerkt in der Einleitung
zur 1951 erschienenen Anthologie „Stimmen der Gegenwart“, dass v. a. die Gene-
ration jüngerer Schriftstellerinnen und Schriftsteller „[v]erkannt, mißverstan-
den, verfolgt, in äußerster physischer und psychischer Notlage, von inkompe-
tenten Wichtigtuern des offiziellen Betriebs ignoriert oder bestenfalls leutselig
auf die Schulter geklopft“7 würde.
Dass sich Autorinnen und Autoren, es sei hier etwa an den Literatenkreis im
Café Raimund um Weigel erinnert, im Kaffeehaus trafen, passte zur Schnellle-
bigkeit des Wiederaufbaus, aber organisierte staatliche Initiativen oder durative
Strukturen, die einen wie auch immer gearteten „Literaturbetrieb“ formiert hät-
ten, gab es nicht. Am ehesten wäre noch der österreichische P.E.N.-Club, der
sich bereits Mitte November 1947 neu konstituiert hatte, in der Lage gewesen,
solche das „literarische Leben“ betreffende Aufgaben zu übernehmen; der P.E.N.
sah sich jedoch im Spannungsfeld des Kalten Krieges immer wieder Angriffen
ausgesetzt, ganz davon abgesehen, dass er nur selten Lesungen oder Buchprä-
sentation organisierte.8 Wolfgang Kraus selbst hat davon gesprochen, dass es
vor der Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Literatur (ÖGL) nur
6 Doris Moser: Erbarmungswürdig hervorragend. Literarisches Leben zwischen Kulturnation
und Künstlersozialversicherung. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literatur-
betrieb in Deutschland. 3. völlig veränd. Aufl., Neufsg. München: Ed. Text + Kritik 2009, S.
375–409, hier S. 375.
7 Hans Weigel: Vorbemerkung. In: Stimmen der Gegenwart 1951. Hg. im Auftrag der Gesell-
schaft für Freiheit der Kultur von Hans Weigel. Wien: Jugend und Volk 1951, S. 5.
8 Vgl. Roman Roček: Glanz und Elend des P.E.N. Biographie eines literarischen Clubs. Wien,
Köln, Weimar: Böhlau 2000, S. 323 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
44 Der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437