Page - 95 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Präzise, aber zweischneidig, fasst Viktor Matejka im kommunistischen Tage-
buch die Leistungen der ÖGL nach dem ersten Jahr ihres Bestehens zusammen:
„Wiewohl die neue Gesellschaft ein geschickt verlängerter Arm des Minoriten-
platzes ist, darf ihre Aufbauarbeit als Gewinn bezeichnet werden.“51 Matejka fügt
hinsichtlich ihrer Position im Feld hinzu: „Ich möchte hier nicht aufzählen, was
in Österreich alles falsch gemacht wird; wenn ich mich bloß auf die Förderungs-
bestrebungen der Literatur beschränke, könnte ich mit Leichtigkeit mit einer
schier endlosen Liste aufwarten. Wolfgang Kraus hat vieles richtig gemacht.
Freilich unter der Voraussetzung, daß das Ministerium mit Geld nicht gespart
hat“.52
Bemerkt sei, dass Matejka nicht nur ein eifriger Besucher der Veranstaltun-
gen der ÖGL und Beobachter ihrer Tätigkeiten war, sondern Kraus knapp drei
Jahrzehnte später für sein Engagement in einem Brief lobt, in dem er Kraus’
„Geburtshelferei für Literatur/Kultur, Ihre in- und extensive literarische Heb-
ammerei“ hervorhebt: „Sie sind immer ein eifriger Zusammenfasser vom geis-
tigen, kulturellen Wein- und Wasserstand“53 gewesen.
Zu einer völlig anderen Auffassung in Bezug auf die ÖGL kommt Rudolf Henz,
dessen Ressentiments gegenüber einer Innovation im Literaturbetrieb, wie sie
die ÖGL darstellt, deutlich werden, die „an Henz vorbei“54 gegründet worden,
und für den Funktionär auch mit einer Einbuße an „Macht“ verbunden war.
Henz hielt im Juli 1964, während sich die ÖGL gerade in Sommerpause befand,
in seinem Tagebuch folgendes fest: „An sich wird aber die Literatur Gesellschaft
immer problematischer. Kraus undurchsichtig, für nichts wirklich engagiert,
eine Weikertfigur […]. Geschickt mit lautstarken Gesichtern umgeben, z. B.
[Otto] Breicha oder H.
H. Hahnl. Thomas Bernhard. Dieses hochmütige Kolle-
gium der hochgestochenen Sterilität.“55
Zwei Tage vor seiner Lesung am 3.
Mai 1967 aus der unveröffentlichten Erzäh-
lung Zwischenhoch in der ÖGL notiert Henz: „Übermorgen dann die Lage i[n]
d[er] Lit[eratur] Ges[ellschaft]. Man muß es tun, obgleich diese ganze Lit[era-
tur] Ges[ellschaft] mich stagelgrün anfliegt [wienerisch, wenn sich jemand über
etwas sehr ärgert, Anm. d. Verf.]. Immer mehr wird sie zum Tummelplatz d[er]
halbstarken Intellektuellen.“56
51 Viktor Matejka: Das alles ist Wien. Neues Leben in einem alten Palais. In: Tagebuch 18 (1963),
Nr. 2, S. 3.
52 Ebd.
53 Viktor Matejka an Wolfgang Kraus, 27. Mai 1992, NL WK.
54 Haider: „Der Kartonismus“ 1965. In: Karner (Hg.): Österreich – 90 Jahre Republik, S. 424.
55 Rudolf Henz: Tagebuch, 15. Juli 1964, NL RH.
56 Ders.: Tagebuch, 3. Mai 1967, NL RH.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 95
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437