Page - 110 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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führten diese Versuche zu keinem Ergebnis. Als sich 1970 mit der Alleinregie-
rung der SPÖ das kulturpolitische Klima zu wandeln begann und die Bemü-
hungen um die österreichischen Künstlerinnen und Künstler sowie Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler, die im Ausland lebten, verstärkt wurden,
schrieb Kraus an Bachmann, dass es der „Wunsch der neuen Regierung“ sei,
diese „Verbindung[en]“ enger zu gestalten, obwohl „unsere Mittel und Möglich-
keiten“ beschränkt seien und es „viel bürokratische Schwierigkeiten“ gebe: „Viel-
leicht hätten Sie aber einen Vorschlag für Ihren persönlichen Fall, den ich dann
gern an Herrn Bundeskanzler Kreisky weiterleiten werde.“102 Bachmann war
zunächst interessiert, wollte „mit einem Fuß nach Wien“103 zurückfinden und
war über das Interesse des Bundeskanzlers sehr erfreut. Die Versuche, Bach-
mann enger an den Wiener Literaturbetrieb zu binden, ließen sich jedoch nicht
realisieren.
Die ÖGL und die Avantgarde
In die Kritik geriet die ÖGL zwar hinsichtlich ihrer verspäteten Einladungspo-
litik gegenüber Autorinnen und Autoren der österreichischen Avantgarde, aber
auch diesen wurden eigene Veranstaltungen gewidmet. Für diese „Verspätung“
lassen sich auch literaturhistorische Besonderheiten ins Treffen führen.
Schmidt-Dengler hat konstatiert, dass erst die Jahre zwischen 1965 und 1970 als
Zeitraum „des formalen Aufstands, des formalen Spektakels“104 charakterisiert
werden können. In diesem Kontext spricht auch Gerhard Melzer davon, dass
sich erst zwischen 1966/67 und 1972 der Durchbruch dessen vollzog, was „heu-
te allgemein als moderne Literatur aus Österreich anerkannt und geschätzt
102 Wolfgang Kraus an Ingeborg Bachmann, 28. Juli 1970. Zit. n. Schmidt: Die Geschichte der
ÖGL. Dokumentationsband, S. 86.
103 Ingeborg Bachmann an Wolfgang Kraus, 15. Oktober 1970. Zit. n. Schmidt: Die Geschichte
der ÖGL. Dokumentationsband, S. 87.
104 Wendelin Schmidt-Dengler: Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis
1990. 3. korr. Aufl. Hg. v. Johann Sonnleitner. Salzburg: Residenz-Verl. 2010, S. 235.
Schmidt-Dengler fasst die damals vorherrschenden literarischen Strömungen in fünf Punkten
zusammen: Die (1) Füllung vorgegebener Muster durch neue Sprache, die obwohl die Gattun-
gen bestehen bleiben, den Anspruch der Leserin bzw. des Leser jedoch nicht einlösen, der eine
bestimmte Erwartungshaltung an die literarische Form hat. Der (2) Konflikt zwischen Natür-
lichkeit und Künstlichkeit sowie der Verzicht, durch Kunst eine neue Wirklichkeit schaffen zu
wollen, (3) die Thematisierung der Sprache, die auf sich selbst verweist sowie eine (4) Positi-
onierung von Autorinnen und Autoren in der Negativität. Zuletzt die (5) Analogisierung von
Sprache und Gesellschaft, die eine Gesellschaftskritik durch Sprachkritik unternimmt und
versucht, die Strukturen der Gesellschaft durch Kunst sichtbar zu machen.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
110 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437