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früheren Vergangenheit nennen wollen, die abseits der üblichen „klassischen Emp-
fehlungen“ liegen, sind wir Ihnen jedenfalls verbunden.173
Der „Zukunftsforscher“ und Essayist Robert Jungk, an den ebenfalls diese Anfra-
ge abgegangen war, kritisierte den literaturpolitischen Impetus. Das Anliegen
der ÖGL erschien ihm „wohl von besten Absichten geleitet, aber nicht ungefähr-
lich zu sein, denn der Schritt von solchen Empfehlungen der Mandarine bis zum
staatlichen oder parteilichen Ukas scheint mir sehr klein zu sein“.174 Eventuell
war man zunächst nicht so sehr an einem Kanon interessiert, sondern vielmehr
an einer Bestandsaufnahme der österreichischen Literatur nach 1945.
Unter dem Titel „Lektüre-Ratschläge für die junge österreichische Generati-
on“ erschienen die Ergebnisse dann in „Wort in der Zeit“. Die Auswertung und
der Essay stammen vom österreichischen „Beat“-Autor Walter Buchebner,175 der
Anfangs die „‚demokratische‘ und weitab von aller penetranten Pädagogik lie-
gende Methode“ der ÖGL betont, damit keine „‚diktatorische‘ Einzelstimme“
den Ton angebe. Heimito von Doderer empfahl etwa die Lektüre des bei Stiasny
erschienenen Bandes Das große Erbe, herausgegeben vom estnischen Literatur-
wissenschaftler Ivar Ivask, in dem „soviel über österreichisches Wesen und öster-
reichische Literatur auf schmalem Raum gedrängt [ist], daß man sich kaum eine
bessere Kurz-Einführung vorstellen kann.“176 Das Ergebnis, zieht man etwa die
Resultate der Umfrage hinsichtlich der Prosa heran, fiel jedoch sehr eklektisch
und unüberschaubar aus und war um nichts weniger als die Weltliteratur
bemüht.177 Buchebner unterlässt es zuletzt jedoch nicht, der herangezogenen
173 Wolfgang Kraus an Hans Weigel, Februar 1976, NL HW, Archivbox 10, Mappe 4.
174 Walter Buchebner: Lektüre-Ratschläge für die junge österreichische Generation. In: Wort in
der Zeit 9 (1963), H. 7, S. 41–48, hier S. 41.
175 Ebd.
176 Ebd., S. 43.
177 Das Ergebnis der Umfrage kann als eklektisch bezeichnet werden. Genannt wurden: „Gilga-
mesch, Homer, Vergil, Boccaccio, Manzoni, Silone, Buzzati, Kazantzakis, Cervantes, Rabelais,
Voltaire, Balzac, Flaubert, Stendhal, Zola, Proust, Bernanos, Gide, Sartre, Camus, Chaucer,
Swift […], Thackeray, Dickens, manches von Conrad, Joyce […], Thoreau, Orwell, Emerson,
Melville, Poe, Stevenson, Twain, Dos Passos, Faulkner, Wolfe, Hemingway, Steinbeck, Wilder,
Virginia Woolf, Salinger […], Ch. De Coster, Kiwi, Strindberg, Lagerkvist, H. C. Andersen,
Jacobson, Nexö, Hamsun, Gotthelf, G. Keller, C. F. Meyer, Frisch und Robert Walser. Dann
Gogol, Gontscharow, Tolstoj, Dostojewskij, Ljesskow, Tschechow, Gorki, Pasternak, Ehrenburg
[…], Goethe, Schiller, Kleist, Eichendorff, Büchner, Heine, Ricarda Huch, Heinrich und Tho-
mas Mann, Döblin, Ernst Jünger […], Böll, Gaiser, Günter Grass, Zuckmayer, Schnurre. […]
Henry Miller […] Vittorio, Svevo, C. E. Gadda, Peter wie[ss], Gallego, Heißenbüttels ‚Texte‘
[…] E. T.A. Hoffmann, ‚Die Sonnenfinsternis‘ [sic] von Koestler, Hašek, Hauffs Märchen, die
Grimm-Märchen, Meyrink, Huxley […]. Von W[illiam
S]. Burroughs ‚The Naked Lunch‘ [sic].
Von Kerouac zumindest ‚Unterwegs‘ […]. Und schließlich alle Autoren des französischen
‚roman nouveau‘, ganz besonders aber Nathalie Sarraute und Robbe-Grillet.“ Vgl. Ebd., S. 46.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
128 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437