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tration auf eine repräsentative Kultur von der Literaturproduktion isoliert, obwohl
diese doch dem neuen Österreich zu seinem Selbstverständnis verholfen habe:
„Denn nicht so sehr die Fußballsiege, die Wintersporttriumpfe und die Führung
der Politik schaffen einen Staat, dessen Existenz so wenig gesichert ist wie die
Existenz Österreichs, die innere Existenz Österreichs, die Selbsterkenntnis, son-
dern die Künstler, die Wissenschaftler, und zwar die produzierenden Künstler,
nicht die Kehlkopfvirtuosen und die Pultvirtuosen, sondern diese kleine Hand-
voll von Schriftstellern, Malern, Komponisten und Wissenschaftlern.“182 Weigel
verwies dabei insbesondere auf die Anthologie „Die Verbannten“ von Dor, die
weiter unten Erwähnung finden wird.
Alfred Weikert versuchte die Vorwürfe zu entkräften, verwies auf die Initia-
tiven des Unterrichtsministeriums und führte literarische Reihen, Anthologien
und Zeitschriften an, darunter „Neue Dichtung aus Österreich“ im Bergland-Ver-
lag und „Wort in der Zeit“. Laut Weikert sollte jeder „einmal eine Chance“183
erhalten. Diese Aussage verdeutlicht das Bestreben, auch die Literatur als staat-
liche Repräsentationsform zu gebrauchen. Milo Dor sah die isolierte Stellung
der österreichischen Literatur im Fehlen einer größeren Leserschicht; als Teil-
nehmer der „Gruppe 47“ verglich er den österreichischen Literaturbetrieb mit
Westdeutschland und kehrte die politischen Rahmenbedingungen hervor, wel-
che die Nachbarn voneinander trennten:
Dort gibt es eine große Schicht von Intellektuellen, die Leute von den konservati-
ven Katholiken bis zu den sogenannten heimatlosen Linken erfaßt und wirklich
so groß ist, daß sie eine Literatur tragen kann. Sie zeigt immer wieder lebhaftes
Interesse für alle Neuerscheinungen, die sich mit der sogenannten unbewältigten
Vergangenheit auseinandersetzen, Bücher werden groß besprochen, die Bücher
werden gelesen, sie bekommen Auflagen, die Autoren werden auch in kleinere Orte
zu Lesungen eingeladen. In Österreich spricht der Autor von heute in eine echo-
lose Leere hinein.184
Kraus dagegen hatte für die Rezeptionsschwierigkeiten der österreichischen
Gegenwartsliteratur zwei Schuldige ausgemacht: die Medien und die Buchhänd-
ler. Darüber hinaus verlas er einen Brief Doderers, der zwar eingeladen, aber
verhindert war, in dem dieser das Fehlen einer nuancierten österreichischen
Literaturkritik für die Situation der Literatur verantwortlich machte: „Ohne den
Gesetzgeber der Literatur, den Kritiker, ist literarisches Leben nicht möglich: es
fehlt ihm Zentrum und Maß. Die fortwährend neue Erarbeitung der vielfach
182 Ebd., S. 3.
183 Ebd.
184 Ebd., S. 4.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 131
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437