Page - 165 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Kraus, der über Frieds Roman Ein Soldat und ein Mädchen eine Rezensionen
verfasst hatte, die in zahlreichen bundesdeutschen Zeitungen erschienen war,
weist ihn darauf hin, dass sie sich „auf dem Feld der Literatur ja schon einige
Male begegnet“308 seien.
Im März 1962 reiste er nach London, um den Autor in einem persönlichen
Gespräch kennenzulernen, und versuchte im Zeitraum bis zu Frieds erster Rei-
se nach Wien, ihm alle Wünsche zu erfüllen, ließ ihn ein Hotel auswählen, schick-
te ihm Bücher von Autorinnen und Autoren, mit denen er in Wien zusammen-
treffen sollte, versprach Diskussionen und Rundfunksendungen zu arrangieren
und holte ihn mit dem Privatauto vom Flughafen ab. Ende April 1962 fand die
Lesung statt, im Anschluss daran eine Diskussion über „Die Bedeutung des
Manierismus in der heutigen Literatur“, an der Fritsch, Kraus und Zand teilnah-
men.
Die Einladung führte zunächst zu einer persönlichen Freundschaft, die aber
an den ideologischen Prämissen zu scheitern drohte. Als Fried in einem Brief
erwähnte, er wolle eine österreichische Staatsbürgerschaft erwerben, unterstützte
Kraus das Anfang Juli 1962 gestellte Ansuchen um Wiedereinbürgerung an das
Unterrichtsministerium sowie die Wiener Landesregierung.309 Dieses Ansuchen
wurde trotz Kraus’ Interventionen310 von den offiziellen Stellen verschleppt, Fried
erlangte die Staatsbürgerschaft erst zwanzig Jahre später. Dies könnte auch daran
gelegen haben, dass Fried den staatlichen Stellen ideologisch verdächtig gewesen
sein dürfte, was sich etwa an den Bemerkungen von Rudolf Henz in Bezug auf
308 Ebd.
309 Vgl. Erich Fried an Wiener Landesregierung, 4. Juli 1962, ÖGL-Archiv.
310 Wolfgang Kraus an Alfred Weikert, 27.
April 1962, ÖGL-Archiv. „Es geht darum, Herrn Fried,
der nicht nur in England, sondern im ganzen deutschen Sprachgebiet einen nicht geringen
Einfluss auf die literarische Entwicklung ausübt, an Wien zu binden und ihm seine eigene Hei-
mat näherzubringen. In einem Gespräch sagte er mir, dass er Interesse hätte, zu seiner briti-
schen Staatsbürgerschaft wiederum die österreichische zu erwerben. Ich glaube, man müsste
ihm dabei behilflich sein. Herr Fried wurde bisher vom Österr. Kulturinstitut in London über-
haupt nicht zur Kenntnis genommen, er scheint nicht einmal in der Einladungskartei auf. [...]
Meiner Meinung nach wäre es sehr wichtig, Herrn Fried auch zu einer aktiven Mitarbeit und
Beratung unseres Kulturinstituts in London in irgendeiner Form zu gewinnen. [...] Ich komme
mit ihm zu Dir, weil ich glaube, dass der Kontakt mit ihm wirklich wichtig ist.“; Kraus an Bun-
desministerium für Unterricht, 4.
Juli 1962: „Ich möchte das Ansuchen um die Wiedergewin-
nung der österreichischen Staatsbürgerschaft des Schriftstellers Erich Fried mit allem Nach-
druck befürworten und wärmstens bitten, dass dem von uns ausserordentlich geschätzten Autor
durch die Anmeldung des Staatsinteresses in dieser Sache geholfen wird. Erich Fried ist einer
der bedeutendsten heute lebenden Lyriker, ein Romanautor von hohem Rang, ein Dramatiker
mit großen Erfolgschancen und eine in alle literarischen Bereiche wirkende kulturelle Persön-
lichkeit mit erheblichem Einfluss. […] Es scheint uns von Wichtigkeit, Herrn Fried an seine
Heimatstadt zu binden und seine ausserordentliche Begabung, seine Energie und seinen Ein-
fluss für Österreich zu sichern.“
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 165
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437