Page - 167 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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Die Verbindung zwischen Fried und der ÖGL blieb zunächst noch intakt, im
September 1963 wurde der Gedichtband Reich der Steine in der Reihe „Neue
Bücher österreichischer Autoren“, neben Haushofers Die Wand, Okopenkos Selt-
same Tage und Tramins Die Herren Söhne präsentiert. Kraus empfahl Fried auch,
sich hinsichtlich seiner Shakespeare-Übersetzungen an Ernst Haeussermann,
den damaligen Direktor des Burgtheaters zu wenden, was allerdings ergebnislos
blieb. Im Oktober 1964 stellte die ÖGL H.
C. Artmanns Gedichtband Die Suche
nach dem gestrigen Tag und Rudolf Bayrs Der Wolkenfisch vor. Da die ÖGL nicht
über genügend finanzielle Ressourcen verfügte, konnte Fried nicht nach Wien
eingeflogen werden; 1965 nahm er aber am Round-Table-Gespräch „Unser Jahr-
hundert und sein Roman“ teil, danach brach der Kontakt für drei Jahre ab.
Fried, dessen Frühwerk noch in der Tradition expressionistischer Antikriegs-
lyrik stand, avancierte mit dem Gedichtband und vietnam und (1966), in dem
es ihm gelang, die politische Lyrik direkt zur Tagespolitik hinzuführen, um ihr
damit eine schockierende, tabuverletzende Qualität zu verleihen, zum politi-
schen Autor. Fried, der sich ab 1963 der „Gruppe 47“ angenähert hatte, gab 1968,
um nicht länger ein Propagandist im Kalten Krieg zu sein, die Stelle bei der BBC
auf und engagierte sich für die Studentenproteste. Er sandte Kraus Gedichte über
die Ereignisse 1968 in der Tschechoslowakei und meldete sich im Oktober 1969
wieder bei Kraus, um anzufragen, ob eine Lesung möglich wäre. Kraus antwor-
tete: „Natürlich würde auch ich mich riesig freuen, Dich wiederzusehen und am
meisten, wenn das in Wien geschehen könnte. Nun muß ich erst in den nächs-
ten Wochen vor Weihnachten endgültig feststellen, was wir noch an bereits
bestehenden Verpflichtungen zu erfüllen haben, und wie es mit Zeit und Geld
aussieht. Die gemütlichen Tage unserer Anfänge sind leider hinter uns […]. Ich
danke Dir sehr für Deine Anhänglichkeit an Wien und an mich.“315 Dies sollte
jedoch nicht überbewertet werden, da Kraus Fried überaus geschätzt hat und
ihn in London immer wieder besuchte, etwa im Jahr 1971 und auch im Februar
1973, wie seinen Tagebüchern zu entnehmen ist: „Fried wie immer gegen majo-
rative Meinung. Gegen ‚Gangstermethoden‘ Israels. Gegen Kommunismus, gegen
USA. Wie immer voller Hilfsbereitschaft. Sehr kreativ. Gedichte? Wie ein Kanin-
chen. Übersetzt, dauernd tätig. Potent, realistisch, über Weltpolitik informiert,
hat zu allem profilierte Meinung. Fürchtet Rechtsdiktaturen [...] in England.
Verblüffendes Gedächtnis (zitiert Anders etc).“316
1972 war Fried wieder zu einer Lesung eingeladen, nahm im selben Jahr am
Kongress „Die Verantwortung des Schriftstellers“ teil und erhielt den „Österrei-
chischen Würdigungspreis für Literatur“.
315 Wolfgang Kraus an Erich Fried, 26. November 1969, ÖGL-Archiv.
316 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 20. Februar 1973, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 167
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437