Page - 169 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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num Masse und Macht (Crowds and Powers) erschienen war, die in Großbritan-
nien sofort wahrgenommen wurde: „Das ist ein gewisser Kontrast zu Wien, wo
die Existenz dieses Buches, das immerhin mein Lebenswerk ist, noch kaum
bemerkt worden ist.“321
Erstmals las er in Wien dann im Februar 1963 aus der Blendung, die zu die-
sem Zeitpunkt noch nicht wiederaufgelegt war, weshalb nur wenige Zuhörer sich
versammelt hatten. Er hielt gern und, in der Tradition von Karl Kraus, „überaus
wirkungsvoll Lesungen ab, sein Charisma bezwang das Publikum fast so wie das
seines Vorgängers.“322 Canettis Biograph Sven Hanuschek hat festgehalten, dass
mit dieser Lesetournee Canettis, die ihn auch durch die Bundesrepublik führte,
eine neue Selbstbestätigung für den Autor einherging und sich auf diese Weise
seine verspätete Erfolgsgeschichte einstellte, die indirekt mit Erich Fried zu tun
hat, der den Erfolg bei Hanser verdeckt vorbereitete. Fried hatte das Canetti-Le-
sebuch Welt im Kopf (1962) herausgegeben und eingeleitet, das im Stiasny-Ver-
lag erschienen war. Das Vorwort des Bandes, der erstmals „Aufzeichnungen“
sowie das Kapitel „Der Unsichtbare“ aus den viel später veröffentlichten Stim-
men von Marrakesch enthält, war von Veza und teilweise Elias Canetti selbst
geschrieben worden, obwohl von Fried gezeichnet.
War in der Bundesrepublik sein neuer Hausverlag Canettis wichtigster Pro-
moter, so kann für diese Funktion in Österreich die ÖGL gelten. Kraus selbst
begleitete Canettis Neuerscheinungen mit hymnischen Besprechungen. Hanu-
schek meint, dass der „in Bulgarien gebürtige Osmane, dann Staatenlose und
anschließend Brite, eigentlich aber Kosmopolit [...] Canetti […] häufig als Öster-
reicher angesehen“ wurde, vor allem in Österreich; wofür vor allem seine litera-
rische Sozialisation spricht: „Die österreichischen Kulturinteressierten und -ver-
walter unternahmen einiges, um diesen Autor wieder zurückzubringen“,323 und
die Lesungen in der ÖGL fanden vor immer größerem Publikum statt. Auch
seinen ersten Literaturpreis erhielt Canetti in Wien, wo er bei seinen Aufenthal-
ten stets in der Pension „Nossek“ am Graben wohnte.
Der Kontakt zwischen Canetti und der ÖGL riss nicht ab, er trat am 27.
Okto-
ber 1965 beim Symposium „Unser Jahrhundert und sein Roman“ auf, und bereits
wenige Tage später gab er eine Lesung aus dem Drama Hochzeit,324 das kurze
Zeit zuvor in Braunschweig uraufgeführt worden war. Im Herbst 1967 war er
wieder in Wien, wohnte der Premiere des Theaterstücks Die Befristeten am
11. November bei und hielt einen Vortrag im Palais Pálffy über „Macht und
321 Elias Canetti an Wolfgang Kraus, 29. September 1962, ÖGL-Archiv.
322 Sven Hanuschek: Elias Canetti. Biographie. München, Wien: Hanser 2005, S. 482.
323 Ebd., S. 511.
324 Diese Lesung ist abrufbar unter: http://www.mediathek.at/atom/0140A326-329-0019F-000003F8-
013FCFE2 [zuletzt aufgerufen am 15.1.2020]
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 169
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437