Page - 201 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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schen Mythos“ ist bei Magris jedoch durchaus ambivalent, da es „zwischen poli-
tisch-gesellschaftlicher Kritik und ästhetischer Verklärung“27 oszilliert. Die
Entstehung dieses „Mythos“ verband Magris mit einem zukunftsorientierten
Konzept von Mitteleuropa, das ab den 1980er Jahren und vor allem nach der
Wende 1989 zunehmend Anklang bei österreichischen Politikern, wie etwa dem
österreichischen Wissenschaftsminister Erhard Busek fand.28
Während „auf der politisch-verfassungsmäßigen Ebene“ eine „totale Verein-
heitlichung“ bereits in der Monarchie, aber auch nach ihrem Zerfall 1918 nicht
möglich gewesen war, verlagerten sich, wie Moritz Csáky hinweist, „entspre-
chende Initiativen zunehmend auf die kulturelle Ebene.“29
Kraus hat in eigenen literaturkritischen und essayistischen Arbeiten an die-
sen Diskurs angeknüpft und dieses literaturgeschichtliche Stereotyp bis zu einem
gewissen Grad verinnerlicht. Das Konzept einer von Kraus projektierten öster-
reichischen Literatur nach 1945 konstituierte sich in diesen Kontexten. Er maß
der Kontinuität und Tradition bei der Beurteilung der Werke zeitgenössischer
Autorinnen und Autoren eine wesentliche Rolle bei.
Kraus gab 1966 in einem Interview mit dem Magazin „alternative“ über das The-
ma „Literatur und Gesellschaft“ hinsichtlich der österreichischen literarischen
Avantgarde zu Protokoll: „Ja, es gibt in der österreichischen Gegenwartsliteratur
eine Avantgarde, wobei man freilich in der Beurteilung sehr vorsichtig sein muß:
manche junge Autoren wiederholen eine Avantgarde von gestern, die mangels
Publizität heute noch nicht in weiteren Kreisen bekannt ist. Ich möchte keine
Namen nennen, sicher ist aber, daß Avantgarde sich nur dann so nennen darf,
wenn sie wirklich neue Bereiche in die Literatur einbringt.“30 Kraus, hier neben
Ernst Fischer, Friedrich Torberg, Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Karl Hein-
rich Waggerl und Milo Dor hinsichtlich seiner Einschätzung der neueren Lite-
ratur befragt, setzte sich stets dafür ein, das „Engagement des Schriftstellers“
herauszustellen, der Literatur eine gesellschaftspolitische Position zuzuweisen,
und befürwortete eine littérature engagée, solange sich diese für die von ihm
favorisierte politische Richtung einsetzte und nicht für eine von vornherein ideo-
logisch verdächtige literarische Produktion des l’art pour l’art:
Die Entscheidung, wo er steht, kann sich kein Schriftsteller ersparen, auch dann
nicht, wenn er sich bewußt vom Engagement freihalten will. Die österreichische
27 Ebd.
28 Ebd.
29 Moritz Csáky: Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay zur
österreichischen Identität. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, S. 174 f.
30 N. N.: Literatur und Gesellschaft. Eine Umfrage I. In: alternative, Dezember 1966, S. 12 f.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Kraus als Literaturvermittler 201
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437