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Kontraste.“48 Kraus warnte die westliche Welt davor, nach dem Zusammenbruch
des Kommunismus in „Selbstzufriedenheit“ zu verfallen, denn „gerade ein schein-
bar klarer Sieg“ könne „neue und völlig unerwartbare Bewegungen provozie-
ren“.49 Das Mitteleuropa-Konzept, das er hier nicht mehr explizit verwendet,
sah Kraus jederzeit durch politische, ökonomische oder kulturelle Strömungen,
die diesem zuwiderliefen, gefährdet.
1996 erhielt er vom „Institut für den Donauraum und Mitteleuropa“ für die
Propagierung dieses mitteleuropäischen „Projekts“ den „Mitteleuropapreis“,
Alois Mock hielt die Laudatio. Der ehemalige Außenminister Mock, mit dem
Kraus auch die Etablierung der Österreich-Bibliotheken umgesetzt hatte, wür-
digte dabei „das Engagement des Schriftstellers für zahlreiche Autoren aus den
ehemaligen kommunistischen Ländern“ und betonte, Kraus habe „der Kultur-
geschichte Mitteleuropas ‚ein Kapitel der Öffnung, der Solidarität und der Glaub-
würdigkeit‘“50 hinzugefügt. Bundespräsident Thomas Klestil, der eine Grußad-
resse gesendet hatte, nannte Kraus einen der „hervorragendsten Intellektuellen
Österreichs“, der „einer breiten Öffentlichkeit eindringlich und überzeugend die
große Rolle und kulturelle Bedeutung des geschriebenen Wortes ins Bewußtsein
gehoben“ habe und dankte ihm ob seines Einsatzes „für den europäischen Geist“.51
Der „europäische Geist“ war für Kraus durch die geopolitischen Fronten des Kal-
ten Krieges bedroht, und er war stets darum bemüht, die Werke jener Intellek-
tuellen zu propagieren, die in Opposition zum zentralistisch-kollektivistischen
System der Sowjetunion standen, diejenigen zu fördern, die „über die Überwin-
dung der kommunistischen Diktatur als einen Weg nach Europa nachdachten“.52
Zu den Werken von u. a. Wassili Aksjonow, Tibor Déry, Efim Etkind, Eduard
Goldstücker, Julius Hay, Václav Havel, Zbigniew Herbert, Miroslav Krleža , Fran-
tišek Langer, Stanisław Jerzy Lec, Stanisław Lem, Sławomir Mrożek und Dimitrij
W.
Satonsky verfasste er meist überschwänglich positive Besprechungen. Jedoch
erweisen sich die verschiedenen literarischen Prozesse in der Sowjetepoche, die
in eine offizielle, nicht-offizielle und dissidentische Literatur bzw. Exil-Literatur
eingeteilt werden können, als „direkt oder indirekt aufeinander bezogene Teil-
48 Wolfgang Kraus: Zukunft Europa. Aufbruch durch Vereinigung. Frankfurt/M.: Fischer 1993,
S. 15.
49 Ebd., S. 19.
50 N. N.: Ein Streiter für die Freiheit des Wortes. In: Die Presse, 12. Dezember 1996.
51 Ebd.
52 Erhart Neubert: Die Teilung Europas in den Debatten der ostmitteleuropäischen Dissidenz.
In: Hans-Joachim Veen, Ulrich Mählert, Peter März (Hg.): Wechselwirkungen Ost-West. Dis-
sidenz, Opposition und Zivilgesellschaft. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2007 (= Europäische
Diktaturen und ihre Überwindung 12), S. 31–46, hier S. 37.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
206 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437