Page - 213 - in Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
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1933, der Ausschaltung des österreichischen Parlaments und dem „Ungarischen
Volksaufstand“ im November 1956 festlegt und dabei den Blick auf die „Konti-
nuitäten und Übergänge zwischen Austrofaschismus und Nationalsozialismus,
Austromarxismus und Stalinismus, Besatzungszeit und Kaltem Krieg“71 lenkt.
Für Kraus, der den Bürgerkrieg 1934 als „sozialistischen Februaraufstand“
bezeichnet und sein diffuses epochen- und generationenübergreifendes Projekt
einer österreichischen Literatur nach 1945, war der Roman nur ein „interessan-
tes Buch und schriftstellerisches Zeitdokument, das nachdrücklich erkennen
läßt, durch welch eine Hölle fürchterlichster Katastrophen und Enttäuschungen
eine Generation gehen mußte, der man heute oft allzu voreilig den Vorwurf
macht, zu keiner echten künstlerischen Gestaltung mehr finden zu können“.72
Gerhard Fritsch kommt dagegen in einer Besprechung zu dem Urteil, dass er
keinen anderen Roman kenne, in dem „der Februar 1934 und seine vielfache
Tragik so unmittelbar und bedrängend dargestellt ist“.73 Österreich war, wie
Erich Hackl in der Anthologie Im Kältefieber festgehalten hat, die literarische
Texte über den Bürgerkrieg 1934 versammelt, noch früher als Spanien, „das ers-
te Land[,] in dem demokratische Errungenschaften gegen den Faschismus ver-
teidigt wurden“ und folgt dem Urteil von Karl-Markus Gauß, der bereits in den
1980er Jahren festgestellt hat, dass für die „große österreichische Literatur [des
20.
Jahrhunderts] die etablierte, kanonisierte, der Bürgerkrieg kein Thema gewe-
sen sei.“74
Über das „Trauma der Ersten Republik“, den Bürgerkrieg von 12. bis 15.
Feb-
ruar 1934, „mit Hunderten von Toten, mit der Vernichtung der Sozialdemokra-
tie, mit über 10.000 Verhaftungen und neun vollstreckten Todesurteilen“75 ver-
liert Kraus kein Wort, was nicht erstaunlich ist, wurde doch der „Mantel des
Schweigens“ über den Bürgerkrieg 1934 ebenso wie „die gesamte Diktatur des
71 Günther Stocker: Politische Literatur aus Österreich. Reinhard Federmann: Das Himmelreich
der Lügner. In: Günther Häntzschel (Hg.): Das Jahr 1959 in der deutschsprachigen Literatur.
München: Ed. Text+Kritik 2009 (= Treibhaus 5), S. 259–275, hier S. 264.
72 Wolfgang Kraus. Zeitroman einer jüngeren Generation. Reinhard Federmanns „Das Himmel-
reich der Lügner“. In: Die Presse, 20. Dezember 1959; die Rezension erschien in folgenden
Zeitungen: Saarbrücker Zeitung, 31.
Oktober 1959; General-Anzeiger, Bonn, 30.
Oktober 1959;
Badische Neueste Nachrichten, 14. November 1959; Oberbayerisches Volksblatt, 25. Novem-
ber 1959; Wiesbadener Kurier, 6.
November 1959; National-Zeitung, Basel, 11.
Dezember 1959;
St. Galler Zeitung, 30. Jänner 1960; Kölner Stadt-Anzeiger, 9. Jänner 1960; Tages-Anzeiger,
Zürich, 15. Oktober 1959.
73 Gerhard Fritsch: Reinhard Federmann.: Das Himmelreich der Lügner. In: Wort in der Zeit 5
(1959), H. 12, S. 55 f., hier S. 56.
74 Erich Hackl, Evelyne Polt-Heinzl: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Im Kältefieber. Februargeschichten
1934. Wien: Picus 2014, S. 9–18, hier S. 13.
75 Ernst Hanisch: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im
20. Jahrhundert. Wien: Carl Ueberreuter 1994, S. 306.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Kraus als Literaturvermittler 213
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437