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Austrofaschismus“ gebreitet, denn dies waren „wunde Punkte, an die man (auch
sprachlich) nicht rührte“.76 Betrachtet man Kraus’ Konzeption unter literatur-
historischen Gesichtspunkten, gehörte er wohl zu jenen breiten Kreisen, die in
den 1950er Jahren die „gültigen Vorstellungen von guter und österreichischer
Literatur“77 reproduzierten und die österreichische Zeitgeschichte zwischen
1934 und 1938 ausblendeten bzw. undifferenziert wahrnahmen.
Dagegen war für Kraus die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in der öster-
reichischen Literatur wichtig, er betont hier stark die Aufgabe der Literatur, eine
Mahnung gegen das Vergessen zu sein. So etwa in Zusammenhang mit Hans
Leberts Die Wolfshaut (1960), der sich als einer der ersten österreichischen Roma-
ne der kollektiven Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen in Form
eines mit expressionistischen Stilelementen durchsetzten Kriminalromans
annimmt und bei seinem Erscheinen für Aufsehen sorgte, jedoch bald kaum
mehr rezipiert wurde. Kraus hatte Leberts Buch auch für den Österreichischen
Staatspreis für Roman im Jahr 1962 begutachtet und den Text „in die höchste
Güteklasse“78 eingestuft. In dem Dorf „Schweigen“ haben Bewohner kurz vor
Ende des Krieges Zwangsarbeiter erschossen, die „Mörder fallen nun ihrerseits
einer geheimnisvollen Vergeltung zum Opfer“.79 Für Kraus war es ein „Roman,
der uns auf die Gräber stößt, die nicht vergessen werden dürfen, da sie so oder
so ihre Rolle in unserem Leben spielen. Und als Verdrängungsimpuls weitaus
verhängnisvoller wie als Tatsache, der man sich stellt.“80 Leberts Roman mar-
kiert „einen Wendepunkt in der literarischen Auseinandersetzung mit der poli-
tischen Vergangenheit Österreichs“,81 dies dürfte auch Kraus bewusst gewesen
sein, setzte er sich doch auch angesichts der Neuauflage des Romans in den
1990er Jahren für eine Buch-Präsentation ein, die aber nicht zustande kam.82
Auch über Erich Frieds Roman Ein Soldat und ein Mädchen (1960), der sich
76 Birgit Scholz: Bausteine österreichischer Identität in der österreichischen Erzählprosa 1945–
1949. Innsbruck, Wien, Bozen: Studien-Verlag 2007, S. 37.
77 Karl Müller: Die Bannung der Unordnung. Zur Kontinuität österreichischer Literatur seit den
dreißiger Jahren. In: Friedrich Stadler (Hg.): Kontinuität und Bruch 1938 – 1945 – 1955. Bei-
träge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Münster: Lit-Verl. 2004 (=
Emigration – Exil – Kontinuität 3), S. 181–216, hier S. 181.
78 Jürgen Egyptien: Hans Lebert. Eine biografische Silhouette. Wien: Sonderzahl 2019, S. 175.
79 Klaus Zeyringer, Helmut Gollner: Eine Literaturgeschichte. Österreich seit 1650. Innsbruck:
Studien-Verlag 2012, S. 639.
80 Wolfgang Kraus: Ein Ort heißt Schweigen. Hans Leberts bedeutender Roman-Erstling. In: Die
Presse, 23. Oktober 1960.
81 Joseph McVeigh: Kontinuität und Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen Litera-
tur nach 1945. Wien: Braumüller 1988 (= Untersuchungen zur österreichischen Literatur des
20. Jahrhunderts 10), S. 217.
82 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 25. März 1993, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
214 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437