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lebendigen Geschehen der Politik und Kultur teilzunehmen, sorgten dafür, daß
Friedrich Heer nie der Studierstube der Welt abhanden kam […]. Heer wurde lang-
sam zum Phänomen […]. Alle Bücher [...] von Heer habe ich mit handgeschriebe-
nen Privatregistern versehen, sie gehören zu meiner Lebenssphäre, sie sind in mein
Denken eingegangen, sie haben mich umgeben, als ich meine eigenen Bücher
schrieb, sie haben mich aufgerufen.100
Der „einzige österreichische Essayist und Historiker von Weltgeltung“,101 der in
Österreich jedoch nie eine Professur erhielt und im Burgtheater als Dramaturg
tätig war, verfasste u. a. Aufgang Europas (1949), Gottes erste Liebe. 2000 Jahre
Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler
(1967) – Kraus nannte es ein „bedeutendes Werk, das starken Anstoß dazu gibt,
daß wir uns die Problematik unserer Tradition und unserer Gegenwart in einer
neuen, erschreckenden Dimension bewusst machen“.102 Der Glaube des Adolf
Hitler. Anatomie einer politischen Religiosität (1968) und Der Kampf um die öster-
reichische Identität (1981) waren Werke, die sich wissenschaftlichen Kriterien
weitgehend entzogen, „die gerade in seiner Zeit alle Gemüter bewegenden Metho-
denfragen“103 tangierten Heer nicht, da er eher in Richtung essayistischer Dar-
stellung tendierte.
Für Kraus zeichnete Heers Wirken, wie er in einer Rezension über Europa.
Mutter der Revolution feststellte, aus, dass dieser als Katholik keineswegs zu den-
jenigen zählte, die es vermieden, an der Kirche Kritik zu üben und als Histori-
ker den Mut hatte, „kritische Konsequenzen aus dieser Haltung zu ziehen, das
heißt, die neuen Maßstäbe an so manche heute sehr erstaunlich wirkende Äuße-
rungen der Kirche anzuwenden“; Kraus fand Heers Arbeiten „für die heutige
europäische Selbsterkenntnis“ sowie „das Abschätzen unserer Zukunftsmög-
lichkeiten von größter Wichtigkeit“.104
Vor allem in den 1980er Jahren wurden Kraus’ Bemühungen um den Anschluss
an den Katholizismus stärker: Er solle sich „stärker katholisch profilieren“, schlug
ihm Manès Sperber bei einem Treffen vor, da Kraus „da zu sehr am Rande“105
sei. In der Folge partizipierte Kraus an der Frühjahrskonferenz der katholischen
100 Wolfgang Kraus: Laudatio. In PEN-Information, 1981, Nr. 8, S. 36–38, hier S. 37 f.
101 Jean Améry: Präceptor Austriae. In: St. Galler Tagblatt, 7. Februar 1968.
102 Wolfgang Kraus: Christentum und Judenhass. In: Tages-Anzeiger, Zürich, 13. Jänner 1968.
103 Vgl. Helmut Rumpler: Die Erlösung der Welt durch die „unsichtbare Kirche freier Geister“.
Eine Begegnungsgeschichte zwischen Begeisterung und Entfremdung. In: Richard Faber, Sigurd
Paul Scheichl (Hg.): Die geistige Welt des Friedrich Heer. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2008,
S. 235–250, hier S. 240.
104 Wolfgang Kraus: Neu gesehene Vergangenheit. In: Basler National-Zeitung, 7.
Dezember 1964.
105 Ders.: Tagebuch, 17. Mai 1981, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
220 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437