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Kraus bemühte sich, Etkind nach Wien „zu einem längeren Forschungsauf-
enthalt“ einzuladen, er dachte dabei „an mindestens sechs Monate, damit Sie
alle zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Möglichkeiten […] auswerten
können“ und bot an, „alle Kosten des Aufenthalts, der Unterkunft und die sons-
tigen Spesen“176 zu tragen. Sogar um die Vermittlung einer länger dauernden
Lehrverpflichtung und einer daran anschließenden Gastprofessur an einer öster-
reichischen Universität war er bemüht.177
In einem Brief erwog Professor Gerard Kruisman vom Departement of Gene-
ral Literary Studies, Section of Translation Studies an der Universität Amster-
dam, dass die französische Übersetzerin Eve Malleret und Gilbert Sigaux, Pro-
fessor am Conservatoire national supérieur d’art dramatique in Paris, ihre
Bemühungen jeweils im eigenen Land koordinieren sollten, um Etkind eine
Lehrstelle an einer französischen Universität zu verschaffen. An Kruisman, der
mithalf, Etkind die Ausreise in den Westen zu ermöglichen, schrieb Kraus, dass
er mit diesem in telefonischen Kontakt stehe:
According to his wishes we sent him […] an invitation to be our guest for an indef-
inite time. […] Meanwhile a student has returned from Leningrad last week and
reported that Prof. Etkind did not receive our invitation nor any other mail from
abroad, it is apparently being confiscated. He was summoned to the KGB and told
that there are only two ways open for him: a trial with subsequent prison term or
emigration. Upon this news, some friends attempted to reach him by telephone,
but failed to get a connection. We are now repeating our invitation via the Austri-
an embassy in Moscow […].178
Für Etkind, ebenso wie zuvor auch für Brodsky, blieb Wien nur Durchgangssta-
tion, er lehrte ab 1975 Komparatistik an der Universität Paris-Nanterre. Kraus
blieb mit ihm bis Mitte der 1990er Jahre in Kontakt und berichtete ihm von sei-
ner kulturpolitischen Tätigkeit während der Ära des Kalten Krieges, dass ihm
die „Verdrängung der osteuropäischen Kultur durch den Westen […], verstärkt
durch die jahrzehntelang dauernde ‚Mauer‘ [d. i. der „Eiserne Vorhang“]“, stets
„ein Dorn im Auge gewesen“ sei: „Wie eh und je versuche ich also, an einem kul-
turellen Milieu mitzubauen, das die Vorzüge von Osten und West vereinigt. Es
geht hier nicht darum, Neues zu erforschen, sondern um die Popularisierung
der Wahrheit.“179
176 Wolfgang Kraus an Efim Etkind, 15. Mai 1974, ÖGL-Archiv.
177 Ebd.
178 Wolfgang Kraus an Gerhard Kruisman 27. Mai 1974, ÖGL-Archiv.
179 Wolfgang Kraus an Efim Etkind, 15. Februar 1991, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Die intellektuellen Dissidenten aus dem Osten 393
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437