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dem Begriff „Mitteleuropa“ umschreiben lässt, war von kanonischen Interessen
geleitet, die entlang kulturpolitischer Parameter verliefen. Österreich als Kultur-
region und das daran gebundene Konzept einer österreichischen (Staats-)Lite-
ratur stand für ihn durch diese historische Bezugnahme auch in internationalen
Zusammenhängen, was sich an seinem Engagement für Autorinnen und Auto-
ren des Exils abzeichnet, die in dieses Konzept inkorporiert wurden.
Die von Kraus ausgehenden Bemühungen für die österreichische Literatur
„adäquate Kriterien der Beurteilung zu finden“, müssen auch in dem Kontext
gesehen werden, die Besonderheiten der literarischen Entwicklungen in Öster-
reich hervorzuheben und nicht nur parallel zu den literarischen Tendenzen „in
der Bundesrepublik, der DDR oder der Schweiz“4 zu vergleichen.
Die ÖGL als Institution wirkte, im Gegensatz etwa zum österreichischen
P.E.N.-Club oder der sich um das Forum Stadtpark formierenden „Grazer Grup-
pe“, nicht so sehr als eine Vereinigung von Autorinnen und Autoren, sondern
bewirkte, nachdem der Literaturbetrieb nach 1945 von wenigen kurzlebigen und
unbeständigen Strukturen gekennzeichnet war, dass „die Literatur in Wien wie-
der eine Adresse“5 hatte.
Die von der ÖGL ausgehende Kontaktaufnahme zu und Einladung von Schrift-
stellerinnen und Schriftstellern, die nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 in
die Emigration gezwungen worden waren, entsprach dabei einem ebenso wich-
tigen Aufholen eines kulturpolitischen Versäumnisses der staatlichen Instituti-
onen, wie die Miteinbeziehung von osteuropäischen Autorinnen und Autoren
außenpolitischen Prämissen folgte. Die Präsentation des literarischen Nach-
wuchses sowie der experimentellen österreichischen Autorinnen und Autoren
war diesen kulturpolitischen Prämissen zunächst deutlich untergeordnet, wobei
bei letzteren auch der latente gesellschaftliche Antimodernismus eine Rolle
gespielt haben dürfte. In der Phase des Übergangs ab der zweiten Hälfte der
1960er Jahre wurde auch avantgardistischen Autorinnen und Autoren ein Podi-
um geboten, in einer Stadt, die sich ein Jahrzehnt davor, wie Unterrichtsminis-
ter Heinrich Drimmel konstatierte, darin gefiel „derartiges, wie man in Wien zu
sagen pflegt, nicht einmal zu ignorieren“.6
Als Traditionalist an Klassizität orientiert, war Kraus einer „altösterreichi-
schen Literatur“ verpflichtet, die sich „den Phänomenen einer radikalen Moder-
4 Wendelin Schmidt-Dengler: Geschichten gegen die Geschichte. Gibt es das Österreichische in
der österreichischen Literatur? In: Modern Austrian Literature 17 (1984), Nr. 3/4, S. 149–158,
hier S. 150.
5 Otto Breicha: Aufgaben und Chancen einer Literaturgesellschaft. In: Das Ventil 1 (1966), H. 1.
6 Heinrich Drimmel: Österreichs Geistesleben zwischen Ost und West. In: Erika Weinzierl, Kurt
Skalnik (Hg.): Österreich: Die Zweite Republik. Bd. 2. Graz, Wien, Köln: Styria 1972, S. 555–
596, hier S. 582.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
400 Resümee
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437