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Das Bild Amerikas aus europäischer Sicht bis Anfang der 1930er-Jahre
zumeist , wie auch im Fall der Charakterisierung Amerikas bei Hegel , ohne viel Sachkennt-
nis und jede eigene Erfahrung formuliert.72 Gegen diese Stigmatisierung Amerikas als ei-
nes degenerierten Kontinents , die die kulturelle Inferiorität seiner ( indigenen ) Einwohner
miteinschloss , hatten die amerikanischen Eliten von Anbeginn anzukämpfen. Dieses kul-
turpolitische Ringen um Anerkennung und Gleichberechtigung gegenüber dem europäi-
schen Mutterland , das schließlich in die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung von
1776 mündete , führte zwischenzeitlich zu höchst kuriosen Versuchen , wie beispielsweise
dazu , die Maya-Tempelstädte auf der Halbinsel Yukatan zu europäisieren , indem diese
kurzerhand zu römisch-karthagischen Gründungen erklärt wurden.73
Eine erste – ebenso prägnante wie nachhaltig wirksame – Kritik nordamerikanischer
Lebenskultur verfasste der aus Mähren stammende politische Emigrant Charles Sealsfield
( alias Karl Anton Postl ), der , anders als viele der nachfolgenden Autoren , von keiner Sen-
timentalität für europäische Werte getrieben war und in seiner Amerika-Kritik durchaus
Realist blieb ; nicht zuletzt hatte Sealsfield in einer 1827 publizierten Schrift mit den Idea-
len der „deutschen Gelehrsamkeit“ gebrochen und das lebensorientiert-praktische repub-
likanische Bildungssystem , in dessen öffentlicher Förderung der „humane Bürgersinn des
Amerikaners“ zum Ausdruck komme , gelobt und obendrein festgestellt , „dass in keinem
Lande für die Bildung des weiblichen Geschlechts so viel Sorge getragen wird“.74
In dem zwischen 1834 und 1837 erschienenen Romanfragment „Lebensbilder aus beiden
Hemisphären“ übte Postl , trotz der positiv dargestellten Freiheit des Individuums in der
Neuen Welt ,75 scharfe Kritik an der dortigen Allmacht des Geldes und den dadurch verur-
72 In seinen ab 1822 / 23 abgehaltenen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“ sprach Hegel von
der „geographischen Unreife Neuhollands“ und beschrieb die indigene Kultur Amerikas als inferior , wild
und roh. Des Weiteren konstatierte er , dass „die Schwäche des amerikanischen Naturells [ … ] ein Haupt-
grund dazu [ gewesen sei , d. Verf. ] , die Neger nach Amerika zu bringen , um durch deren Kräfte die Arbeit
verrichten zu lassen ; denn die Neger sind weit empfänglicher für europäische Kultur als die Indianer [ … ].“
Dennoch stand auch für Hegel , der die Neue Welt strikt nach dem ( entwicklungsfähigen ) Nord- und dem
( unreif-ohnmächtigen ) Südamerika schied , fest , dass von hier aus künftig globale Veränderungen ihren
Ausgang nehmen werden : „Amerika ist somit das Land der Zukunft , in welchem sich in vor uns liegenden
Zeiten , etwa im Streite von Nord- und Südamerika , die weltgeschichtliche Wichtigkeit offenbaren soll ;
es ist ein Land der Sehnsucht für alle die , welche die historische Rüstkammer des alten Europa langweilt.
Napoleon soll gesagt haben : Cette vieille Europe m’ennuie. Amerika hat von dem Boden auszuscheiden , auf
welchem sich bis heute die Weltgeschichte begab. Was bis jetzt sich hier ereignete , ist nur der Widerhall der
Alten Welt und der Ausdruck fremder Lebendigkeit , und als ein Land der Zukunft geht es uns überhaupt
hier nichts an [ … ]“. [ Kursiv im Orig. ] Georg Wilhelm Friedrich Hegel , Vorlesungen über die Philosophie
der Geschichte. Werke 12 , Frankfurt a. Main 1970 , 108 f. bzw. 114.
73 Fröschl , Antiamerikanismus in Europa und Lateinamerika , a. a. O., 84.
74 Zit. nach : Primus-Heinz Kucher , Polyphone Spiegelungen und Kulturkritik in Charles Sealsfields Ame-
rika-Bericht. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika nach ihren politischen , religiösen und gesellschaft-
lichen Verhältnissen betrachtet ( 1827 ). In : Austriaca , Sommaire No. 62 , Juni 2006 , 37.
75 Vgl. Wynfried Kriegleder , Amerika-Idyllik und Europa-Skepsis. Zum Verhältnis Amerika-Europa im
Werk Charles Sealsfields. In : Alexander Ritter ( Hrsg. ), Sealsfield-Studien 1 (= Schriftenreihe der Charles-
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741