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1. Images , Stereotype und Vorurteile
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des habsburgischen Vielvölkerstaates und des von Woodrow Wilson klar proklamierten
Selbstbestimmungsrechts ging die US-Politik von der Auflösung der Habsburgermonar-
chie nach Kriegsende aus. In einem Interview mit der New York Times äußerte sich Präsi-
dent Wilson , der sich selbst mit dem Staatsgefüge Österreich-Ungarns beschäftigte hatte ,
in Bezug auf Österreich im Dezember 1914 unmissverständlich : „It seems to me that the
Government of Germany must be profoundly changed , and that Austria-Hungary will go
to pieces altogether
– ought to go to pieces for the welfare of Europe.“129
Wie Daniel überzeugend rekonstriert hat , unterschied sich der Blick der USA auf Ös-
terreich-Ungarn deutlich von dem auf andere Mächte wie Großbritannien , Deutschland ,
Russland oder Japan , indem die Habsburgermonarchie nicht nur das „alte Europa des
langen neunzehnten Jahrhunderts“ verkörperte , sondern darüber hinaus als keine ernstzu-
nehmende Gefahr oder Konkurrenz angesehen wurde :
„Die Ziele der Habsburgermonarchie lagen in einem begrenzten Gebiet , das für amerikanische
Interessen entfernt und ohne Belang war. [ … ] Allein , die Entwicklung der Minoritätenpolitik
und das Verhältnis Ungarns sowohl zu Österreich als auch zu seinen serbischen und rumäni-
schen Minderheiten zogen amerikanisches Interesse auf sich und zeigten den Reformbedarf
dieser Region nach amerikanischen Prinzipien auf. Für die amerikanische Elite war die Do-
naumonarchie in der Tat schon eine ‚second class power‘ [ … ]“.130
Nachdem im Kontext des Ersten Weltkriegs kurzfristig die nachgerade exotische Fra-
ge nach den militärisch-politischen Auswirkungen einer deutsch-österreichischen Sup-
rematie im Fall eines Kriegsgewinnes aufgeworfen worden war ,131 gingen die USA nach
Kriegsende schließlich als definitive Sieger hervor , indem sie nun „sowohl Kriegsschulden
als auch Reparationen“132 finanzierten. Gegen Mitte der 1920er-Jahre erfolgten massive
Investitionen in die deutsche Ökonomie und Wirtschaft und noch bis 1941 betrugen die
Investitionen US-amerikanischer Firmen ( ITT , General Motors , American IG Chemical
Corporation et cetera ) rund 475 Millionen Dollar.133
129 Woodrow Wilson am 14. Dezember 1914. Hier zit. nach : Silvia Daniel , A Brief Time to Discuss America.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Urteil amerikanischer Politiker und Intellektueller , a. a. O., 428.
130 Ebd., 433.
131 So sprach der US-Historiker Roland G. Usher für den Fall einer siegbedingten „reorganization of Ger-
many and Austria“ nach Kriegsende von der bisher möglicherweise größten Krise für die USA , denn : „We
shall be blind to the most obvious of facts if we fail to see that a European army can be maintained in the
United States as easily as the present European armies can be maintained from the United States. [ … ]
Invasion oft the United States is no longer forbidden by the practical difficulty of maintaining at such a
distance a force sufficiently large to make an invasion decisive.“ Roland G. Usher , Pan-Americanism. A
Forecast of the Inevitable Clash between the United States and Europe’s Victor , London 1915 , 102 , 135.
132 Wagnleitner , Coca-Colonisation , a. a. O., 28.
133 Siehe : Ralph Willet , The Americanization of Germany , 1945–1949 , London
– New York , 1992. 2. Aufl., 9.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741