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Das Bild Amerikas aus europäischer Sicht bis Anfang der 1930er-Jahre
„Amerika , das Land der unbegrenzten Möglichkeiten , das Land der reichsten Männer und der
schnellsten Eisenbahnen , der höchsten Häuser und der meisten Automobile , der größten Kor-
ruption und der banalsten Spießer [ … ]. Sie haben alles : Dollars und Technik , die mächtigsten
Banken und gewaltigsten Fabriken , das Alkoholverbot und alle Weltrekorde , die besten Stiefel
und die rücksichtslosesten Ausbeuter. Nur eines haben sie nicht : Geschmack und Kultur.“166
Obwohl die Sozialdemokratie in Übereinstimmung mit der konservativen Elite sowie
den bestehenden Gesetzen und den obrigkeitlichen Organen grundsätzlich danach trach-
tete , die Jugend vor „Schmutz und Schund“ zu bewahren , sah sie sich anlässlich eines
Auftrittes von Josephine Baker 1928 in Wien , der eine Sittlichkeitsdebatte im Bundesrat
auslöste , zu einem kulturpolitischen Spagat veranlasst : Einerseits wurde die „Kopulie-
rung von nackter Frau und nacktem Geld“167 verurteilt , andererseits versuchte man , den
Auftritt gegen die rigiden Verbotsforderungen klerikaler und deutsch-völkischer Kreise
zu verteidigen , indem man „die bornierte Verbissenheit des antimarxistischen Lagers“168
anprangerte.
Die Auseinandersetzung der österreichischen Sozialdemokratie mit Amerika erfolgte
bis in die Spätphase der Ersten Republik primär auf zwei Ebenen. Zum einen pflegte man
den politischen Kontakt zur „American Federation of Labor“ und zu den US-Gewerk-
schaften ; ebenso wie die deutsche Sozialdemokratie169 hegte sie Hoffnungen auf einen
Erfolg der amerikanischen Sozialdemokraten , die sich , wie eigens angemerkt wurde , 1907
jedoch nur mehr zu 50 Prozent aus deutschen beziehungsweise deutschstämmigen Ge-
nossen zusammensetzten.170 Zum anderen studierte die österreichische Sozialdemokra-
166 Der Kuckuck , 14 , 1929. Zit. nach : Stefan Riesenfellner / Josef Seiter , Der Kuckuck. Die moderne Bild-
Illustrierte des Roten Wien , Wien 1995 , 279.
167 Pfoser , Literatur und Austromarxismus , a. a. O., 196.
168 So wetterte die Arbeiter-Zeitung : „Nur in Österreich ist es möglich , daß ein Regierungschef diejenigen ,
die die polizeiliche Reglementierung in solchen Dingen ablehnen , als Förderer der Unsittlichkeit hinzu-
stellen wagt. Das ist nur möglich in einem Lande , in dem dumpfe , provinzielle Borniertheit , die in jeder
Großstadt ein Sodom , ein Gomorrha sieht , den Staat regiert und die Großstadt reglementieren möchte ,
nur in einem Lande , in dem der anmaßlichste Klerikalismus , von keinerlei Kritik des liberalen Bürger-
tums belästigt , modernes Leben in seine alten Fesseln schlägt.“ Zit. nach : ebd., 196.
169 Zum Entwicklungsverlauf des hochgradig ambivalenten Amerikabildes innerhalb der Deutschen Sozi-
aldemokratie sowie zum Amerikabild bei Karl Marx , Wilhelm Liebknecht , August Bebel , Karl Kautsky ,
Eduard Bernstein oder Rudolf Hilferding siehe im Detail die elaborierte Studie von : Werner Kremp , In
Deutschland liegt unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild von den Anfängen der SPD bis
zur Weimarer Republik (= Politikwissenschaftliche Perspektiven , Bd. 6. Hrsg. v. Manfred Mohs ), Ham-
burg 1993.
170 Noch 1895 war der Prozentsatz deutscher Parteigenossen in den USA bei 95 % gelegen. Siehe : Der Kampf.
Sozialdemokratische Monatsschrift , 3. Jg., 1. Oktober 1909 , Heft 1 , 35 ; zu den Aktivitäten der nach Ame-
rika ausgewanderten deutschen Sozialdemokraten – nach dem Verbot sozialdemokratischer Aktivitäten
und Organisationen 1878 unter Wilhelm I. ( „Sozialistengesetz“ ) waren etwa rund 120 deutsche Sozialde-
mokraten nach Amerika geflohen – sowie zu deren Kontakten zur alten Heimat siehe : Marek Czaja , Die
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741