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1. Images , Stereotype und Vorurteile
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für die „Kühnheit“ und „Entschlußkraft“, die europäischen „Eiertänzen“ entgegen stehe.196
Reichwein bot mit seinem ein vergleichsweise großes Publikum erreichenden Reisebericht
einen kontrastreichen Einblick in die multiethnisch zusammengesetzte amerikanische Ge-
sellschaft , in die drückende soziale Not , aber auch in die faszinierende Dynamik der Welt-
metropole New York und den dort anzutreffenden , schier unglaublichen Luxus :
„Abends fand ich mich wieder in dem phantastisch-luxuriösen Central-Station-Hotel , einem
Traum von praktischem Genie und materieller Fülle. Dies war zwar nicht das eigentliche , aber
das andere Amerika , das euch die illustrierten Zeitungen zeigen. Das Amerika der sorgenlo-
sen Bequemlichkeit , der lautlosen Teppiche und Lifts , das Amerika der ‚efficiency‘ , der höchst
zweckmäßigen Gestaltung , kurz , dort fand ich mich plötzlich wieder , wo Glück und Mehr-
wert sich begegnen , wo alles nur in Riesenzahlen gesagt werden kann , die Masse der Zimmer ,
der Telephone und Bäder , des elektrischen Lichtverbrauchs und nicht zuletzt die Zahl der
Stein gewordenen Dollars , die sich rentieren müssen.“197
Auffällig ist , dass sich Vertreter der volksbildnerischen Wissenschaftspopularisierung , die
zum Großteil Akademiker und oftmals auch Universitätsdozenten oder Professoren waren ,
in den Volksbildungseinrichtungen und deren publizistischen Organen
– im Unterschied
zu den disziplinären Fachbereichen an den Universitäten – in geradezu euphorischem
Ton die von großzügigen Mäzenen finanzierten Bildungs- und Forschungseinrichtungen
Amerikas priesen und diese kritisch mit der ärmlichen Situation und den limitierten Mög-
lichkeiten in Österreich beziehungsweise Europa verglichen. So stand bereits 1901 im offi-
ziellen Organ der 1895 an der Universität Wien eingerichteten österreichischen University
Extension-Bewegung ,198 dem Wissen für alle ,199 in genauer Auflistung der Namen der US-
Mäzenaten und deren gespendeten Summen ,200 folgender optimistischer Aufruf zu lesen :
196 Reichwein bezog sich hier auf eine Äußerung Henry Fords I., der gesagt hätte : „Wenn ich vor die Wahl
gestellt würde , entweder die Löhne zu drücken oder die Dividenden abzuschaffen , ich würde ohne Zö-
gern die Dividenden beseitigen.“ Zit. nach : ebd., 15.
197 Reichwein , Blitzlicht über Amerika , a. a. O., 15.
198 Vgl. dazu Hans Altenhuber , Universitäre Volksbildung in Österreich 1895–1937 (= Zur Geschichte der
Erwachsenenbildung , Bd. I ), Wien 1995 , 34 ff. ; weiters : Christian H. Stifter , Geistige Stadterweiterung.
Eine kurze Geschichte der Wiener Volkshochschulen , 1887–2005 (= Enzyklopädie des Wiener Wissens ,
Bd. III : Volksbildung ). Hrsg. v. Wiener Vorlesungen
– Dialogforum der Stadt Wien , Weitra [ 2006 ] , 40 ff.
199 Klaus Taschwer , Das Wissen für Alle. Annäherungen an das populärwissenschaftliche Zeitschriftenwesen
um 1900. In : Relation. Medien – Gesellschaft – Geschichte. Sonderdruck. Hrsg. v. Österreichische Aka-
demie der Wissenschaften , Wien 1997 , 33 S.
200 Namentlich genannt wurden : John D. Rockefeller ( University of Chicago und Vermont Academy ), Ste-
phen Gerard ( Gerard College ), Charles Pratt ( Pratt Institute ), Johns Hopkins ( Johns Hopkins Univer-
sity ), A. J. Drexel ( Drexel Institute ), Leland Stanford jun. ( L. Stanford University ), Ezra Cornell ( Cornell
University ), The Vanderbilts ( Vanderbilt University ), Seth Low ( Columbia University ). Vgl. Amerika , du
hast es besser ! In : Das Wissen für Alle , 1. Jg. 1901 , Bd. 7 , 147 f.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741