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2. „Education for Victory“
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den Dreißigerjahren anknüpfte , war es , in theoriegeleiteter Form auf empirischer Basis die
spezifischen charakterlichen Persönlichkeitsstrukturen und Wertvorstellungen zu analysie-
ren , die antisemitischen Verhaltensweisen zugrunde liegen.690 Mittels „Fragebögen , mehr-
stündigen Interviews und projektiven Tests“ sowie der Entwicklung einer ausgeklügelten
typologischen „F( aschismus )-Skala“ konnten die Autoren der schließlich 1. 000-seitigen
Studie – die allerdings erst 1950 publiziert wurde691 – verifizieren , dass es einen nachweis-
baren Zusammenhang zwischen Charakterstruktur und anti-demokratischen beziehungs-
weise faschistischen Denkmustern gibt.692 Mit diesem damals unpublizierten Befund
unterstützte die Berkeley-Studie zur autoritären Persönlichkeit tendenziell sozialpsycho-
logische Ansätze in der Auseinandersetzung mit Fragen der Nachkriegs-Reorientierung.
War die empirische Psychologie in den USA ab 1918 als Profession relativ einfluss-
los gewesen , befand sie sich spätestens mit dem Kriegseintritt der USA in starkem Auf-
wind.693 Klinische Diagnosen des aggressiven deutschen Nationalcharakters sahen des-
sen „Eliminierung“ nun weniger als Problem der „Education“, als vielmehr eines der
„Psychotherapie“,694 wobei mitunter auch hier die Idee einer internationalen Kontrolle
durch die internationale Staatengemeinschaft auftauchte.695
Immer öfter taucht nun der Begriff „Reeducation“696 in der Diskussion auf , ein Termi-
nus , der dem zeitgenössischen Theorienarsenal der klinischen Psychologie , Psychiatrie und
690 Rolf Wiggershaus , Theodor W. Adorno , 3. überab. u. erweiterte Aufl., München 2006 , 83.
691 Theodor W. Adorno / Else Frenkel-Brunswik / Daniel J. Levinson / R. Nevitt Sanford , The Authoritarian
Personality , New York 1950.
692 Wiggershaus , Theodor W. Adorno , a. a. O., 84 f.
693 George W. Hartmann. Toward a Reasonable Peace. A Little Psychology of the Psychologist. In : The Jour-
nal of the Abnormal and Social Psychology , 38. Jg., 1943 , 199.
694 „In many respects the problem is not so clearly one of education as it is of psychotherapy.“ Stagner , Peace-
Planning as a Problem , a. a. O., 189.
695 So sprach sich der Psychoanalytiker Franz Alexander , Emigrant und Direktor des Chicagoer Instituts
für Psychoanalyse , in Anlehnung an die historische „Pax Romana“ und die „Pax Britannica“ für eine neue ,
sozial organisierte Form einer dauerhaften Friedensicherung im Zusammenhang der Vereinten Nationen
aus. Franz Alexander , The Psychiatric Aspects of War and Peace. In : The American Journal of Sociology , Vol.
XLVI , January 1941 , No. 4 , 519 f. ; dem schloss sich , unter Kritik der Versäumnisse des Völkerbundes , auch
der britisch-polnische Anthropologe Bronislaw Malinowski an : „I believe that the future peace of mankind
is possible only on a principle of a commonwealth of nations. [ … ] The great enemy of today is the sovereign
state , even as we find it in democratic commonwealths – certainly as it has developed into the malignant
growth of totalitarianism.“ Bronislaw Malinowski , An Anthropological Analysis of War. In : Ebd., 549.
696 Karl-Ernst Bungenstab erwähnt , dass die erstmalige Verwendung des Begriffs „Re-education“ der US-
Journalist Leopold Schwarzschild für sich reklamierte , der diesen in einem Zeitschriftenartikel 1939 ver-
wendet habe , worauf er sogleich von der Politik aufgenommen worden sei. Vgl. Bungenstab , Umerzie-
hung zur Demokratie ? , a. a. O., 9 f. Hellen Liddell wiederum verweist in diesem Zusammenhang auf eine
Schrift Wickham Steed’s , The Fifth Arm , London 1940 , 152. Darin heißt es : „Germany cannot again be
a part of Europe till she has gone through a process of deep moral re-education.“ Zit. nach : Liddell , Ed-
ucation in Occupied Germany , a. a. O., 35.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741