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„Our Country’s Call to Service“
einem geradezu klinisch-pathologischen Setting aus und meinte , mit Bezug auf den psy-
chiatrischen Therapieansatz , dass nach den Jahren totalitärer mentaler Indoktrinierung der
deutschen Schuljugend ausschließlich zu behandelnde „Patienten“ übrig geblieben wären :
„We do not like the word totalitarian. Yet we must apply it , at least , for a moment to cla-
rify the task we are facing. The future education of German youth must be ‚totalitarian‘ in so
far as it has to embrace the whole personality of the child.“ Und weiter : „The teacher who
enters the classroom will find himself in the situation of a physician who enters a hospital
where all the patients show the same or similar signs of being poisoned.“754
Derart starre beziehungsweise technokratische Positionen im Bereich der wissenschaft-
lich-edukativen Auseinandersetzung mit ideologisch-kulturellen Reorientierungs-Fragen
waren nach Kriegsende aber eher Randerscheinungen. Abgesehen davon , dass es unter-
schiedliche Auffassungen darüber gab , wie Reeducation-Maßnahmen tatsächlich umzu-
setzen wären , zeichnete sich in der generellen Debatte immer deutlicher eine Wende gegen
eine prinzipiell harte Gangart ab. Hinsichtlich der Option „Bestrafungskonzept versus
Westintegrationskonzept“755 setzte sich bis etwa 1943 / 44 unter den Entscheidungsträgern
des State Department und auch im Bereich staatlicher , mit „Reeducation“ beziehungswei-
se „Reorientation“ befasster Behördenstellen , sukzessive die ( wie auch immer umzusetzen-
de ) friedliche Demokratisierung nach amerikanischem Vorbild als vage Planungsperspek-
tive durch – eine Perspektive , die den zivilgesellschaftlichen edukativ-philanthropischen
Diskurs von Anfang an klar geprägt hatte.
Der starke Einfluss psychiatrischer Reeducation-Konzepte , den James F. Tent zu Recht
für die Kriegsmitte konstatiert ,756 hielt sich nur für eine kurze Phase und war gegenüber
dem privaten , zivilgesellschaftlichen Diskurs keineswegs bestimmendes Element
– im Ge-
genteil. In den primär auf Formalsäuberungen ausgerichteten militärischen Planungen
blieben die Kernelemente beider Konzepte ohnedies Makulatur ; als besatzungspolitisches
Paradigma durchgesetzt haben sich nach Kriegsende schließlich vorerst , wenn auch mit
enormer zeitlicher Verzögerung , wie noch zu zeigen sein wird , die zivilen Demokratisie-
rungskonzepte.
Dass sich die auf Friedensicherung hin orientierten Überlegungen einer demokratie-
politischen Reeducation beziehungsweise Reorientation tendenziell durchsetzten , und
schließlich auch „von den Vertretern der antikommunistischen Realpolitik [ … ] übernom-
von New Orleans und später an der Universität von Maryland. Von 1946–1948 war er bei amerikanischen
Dienststellen in Europa tätig. Danach beschäftigte er sich mit wissenschaftlichen Arbeiten , bis er 1951 in
den Auswärtigen Dienst der deutschen Bundesrepublik berufen wurde. Vgl. Internationales Biographisches
Archiv , 27 / 1959 vom 22. Juni 1959.
754 Werner Peiser , Re-education of the German Youth. In : School and Society , Vol. 59 , March 11 , 1944 , No.
1524 , 178.
755 Jutta-B. Lange-Quassowski , Amerikanische Westintegrationspolitik , Re-education und deutsche Schul-
politik. In : Heinemann , Umerziehung und Wiederaufbau , a. a. O., 54.
756 Tent , Mission on the Rhine. Reeducation and Denazification in American-Occupied Germany , a. a. O., 22.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741