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2. „Education for Victory“
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Schon bei der Errichtung erster POW-Camps für die deutschen Wehrmachtsgefangenen
des Afrika-Corps im Mai 1943 war das mit Kriegsgefangenen betraute War Department mit
dem spezifischen Verwaltungsproblem einer wachsenden Zahl inhaftierter Soldaten kon-
frontiert , die zum Teil noch an den „Endsieg“ glaubten und in den Camps mitunter regel-
rechten Gesinnungsterror entfalteten.977 Von ursprünglich 2. 000 stieg deren Zahl bis Mai
1945 auf 378. 000 gefangene Wehrmachtsoldaten an ; sie wurden im Rahmen des sogenannten
„Liberty Ship Program“ in die USA transferiert und dort auf rund 500 POW-Lager verteilt ,
die , geografisch weit verteilt , zumeist in isolierten ländlichen Gebieten errichtet waren.978
Ein zentrales Motiv für die Verschiffung von Kriegsgefangenen in die Vereinigten Staa-
ten war zunächst der große Bedarf an Arbeitskräften insbesondere im Bereich der Landar-
beit : „Tens of thousands of POWs , then , fulfilled a vital economic role in rural areas where
the War Manpower Commission of the War Food administration had certified that labor
was scarce.“979
Zwischen den abseits der Öffentlichkeit zumeist im Hinterland eingerichteten ameri-
kanischen POW-Lagern – man befürchtete negative Presseberichterstattung – und den
anlaufenden militärischen Nachkriegsplanungen gab es nur punktuelle , völlig unsystema-
tische Verbindungen , zum Beispiel in Form der vom OSS durchgeführten „Prisoner of
War Interrogations“. Das Ziel dieser Kriegsgefangenenverhöre , die als Teil der psyscholo-
gischen Kriegsführung von der „Psychological Warfare Division“ ( PWD / SHAEF ) durch-
geführt wurden , war einerseits die militärische „Feindaufklärung“, zum anderen sollten die
Befragungen Einblick in typologische Einstellungsmuster geben , um so Aufschluss über
das potenzielle Nachkriegsverhalten der deutschen Bevölkerung zu bekommen. Kürzlich
von Sönke Neitzel und Harald Welzer publizierte Abhörprotokolle des britischen militä-
rischen Geheimdienstes geben ein ungemein facettenreiches und geradezu ‚unverfälschtes‘
Zeugnis von Einstellungen und Stimmungslagen deutscher Soldaten während des Krie-
ges.980 Nach Kriegsende wurden derartige Kriegsgefangenverhöre mitunter auch durchge-
führt , um – teilweise eingebettet in komplexe methodische Settings – von hochrangigen
NS-Kadern indirekt Auskunft über mögliche politische Entwicklungsszenarien des reak-
tionären „vierten“ Lagers und deren Erfolgsaussichten zu bekommen.981
977 Vgl. Gerda Theuermann , Umerziehung und Amerikabild : „Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefan-
genen in den USA“, Dipl.-Arb., Univ. Graz 1992 , 70 ff.
978 Ron Robin , The Barbed-Wire College. Reeducating German POWs in the United States during World
War II , Princeton 1995 , 6.
979 Ebd., 6.
980 Sönke Neitzel / Harald Welzer , Soldaten. Protokolle vom Kämpfen , Töten und Sterben , Frankfurt a. Main 2011.
981 So wurde bspw. nach Kriegsende der ehemalige Gauleiter und Reichsstatthalter von Kärnten , sowie Ober-
ste Kommissar der Operationszone „Adriatisches Küstenland“, Friedrich Rainer , gemeinsam mit dem frü-
heren Gauleiter von Wien , späteren SS und Polizeiführer des Distrikts Lublin und Verantwortlichen für
die Ermordung der Juden in Polen ( „Aktion Reinhardt“ ), Siegfried Uiberreither , im kärntnerischen Krum-
pendorf interniert , wo Rainer gebeten wurde , sich ( in einem zwecks Abhör verwanzten Zimmer ) Gedanken
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741