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Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte
Der Hauptwert der Kriegsgefangenenverhöre lag , wie Rafael A. Zagovec hervorhebt ,
darin , dass durch die durchgeführten Vernehmungen und protokollierten Erlebnisberichte
auch hochrangiger NS-Offiziere und sonstiger militärischer Führungspersonen eine mate-
riale Grundlage für die Verurteilung der NS-Massenverbrechen bei den Nürnberger Pro-
zessen geschaffen wurde.982 Des Weiteren gibt es Indizien , dass die Erfahrungspraxis der
Verhöre die Basis für die theoretische Weiterentwicklung der amerikanischen Soziologie
in den nachfolgenden Jahrzehnten schuf.983
Durchgeführt wurden die unterschiedlich geführten US-Verhöre , deren Ergebnisse al-
lerdings nie zusammengeführt beziehungsweise analysiert wurden , in den meisten Fällen
von deutschen und österreichischen Emigranten.984
De facto ließ sich dieses großangelegte Kriegsgefangenen-Projekt aber nicht lange vor
der US-Öffentlichkeit geheimhalten , die angesichts der großen Zahl an NS-Gefangenen
und ruchbar gewordenen Gewalttaten in den Lagern überaus negativ reagierte und die in-
nere Sicherheit gefährdet sah. Wohl nicht zuletzt deshalb , und weil die deutschen Kriegs-
fangenen weniger „unkorrigierbar“ erschienen als die „supposedly fanatical Japanese“, ent-
schloss sich das US-Militär im Herbst 1943 zu einer quasi edukativen Maßnahme durch
den Provost Marshall General ( OPMG ): Unter der Leitung von Col. Edward Davison985
innerhalb der neu geschaffenen „Special Projects Division“ ( SPD ) wurden Vorbereitungen
für ein zunächst geheimgehaltenes Programm zur „intellectual diversion“ der deutschen
Kriegsgefangenen getroffen.986 Die Geheimhaltung erfolgte deshalb , weil die Genfer Kon-
vention jede propagandistische Indoktrinierung von Kriegsgefangenen verbot und und
man außerdem Vergeltungsmaßnahmen an amerikanischen Soldaten in deutscher Gefan-
über die „Zukunft Österreichs“ zu machen. Dieser brachte seine Ansichten unter dem Titel „The Future of
Austria“ zu Papier , die nachfolgend den Vertretern der drei politischen Parteien in anonymisierter Form
zur politischen Bewertung vorgelegt wurden. Siehe : Christian H. Stifter , NS-Kriegsverbrecher als „intel-
ligente Analysten“ der politischen Nachkriegssituation ? Anmerkungen zu einem „Experiment britisch-
amerikanischer Militärstellen in Österreich 1945. In : Zeitgeschichte , 28. Jg., 2001 , Heft 6 , 321 ff.
982 So war bspw. Marcel Prawy als Interview-Ausbildner tätig , oder Klaus Mann als PWB-Verhörspezialist
an der italienischen Front eingesetzt. Siehe : Zagovec , „The Mind of the Enemy“, a. a. O., 279.
983 Zagovec , „The Mind of the Enemy“, a. a. O., 270 f.
984 Ebd., 271 , Anm. 16.
985 Edward Davison , ein gebürtiger Schotte und erst kurz zuvor naturalisierter US-Bürger , war Universi-
tätsprofessor und Poet , der vorher in der „Morale Division“ der US-Army tätig war. Wie Robin schreibt ,
hatte Davison „no academic or professional experience in the study of German culture ; in fact he had no
meaningful command of the German language at all.“ Robin , The Barbed-Wire College , a. a. O., 44. Die
im Zuge des anlaufenden Projektes angeworbenen leitenden Mitarbeiter von Davison mit mehrheitlich
akademischem Background waren : sein Stellvertreter Maxwell McKnight , Yale-Jurist , Walter Schoenstadt ,
früherer Herausgeber des Berliner Tagblatts und „glühender Kommunist“, der Amerikanist Howard Mum-
ford Jones , der deutsche Historiker Henry Ehrmann , der 1940 in den USA ankam , der Philosoph T. V.
Smith , ein Schüler John Deweys , sowie der Spezialist für Alte Geschichte , Michael Ginsburg. Siehe : ebd.,
46 ff.
986 Robin , The Barbed-Wire College. Reeducating German POWs , a. a. O., 8.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741