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2. „Education for Victory“
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Im Sommer 1944 wurde schließlich damit begonnen , spezielle POW-Camps einzurich-
ten
– so zum Beispiel in Fort Kearny , Fort Wetherill oder Fort Getty ( Rhode Island ) oder
in Camp Van Etten ( New York ) und in Fort Eustis ( Virginia )995
–, wo rund 25. 000 eigens
ausgewählte , antinazistisch eingestellte deutsche Kriegsgefangene in kooperativer Zusam-
menarbeit mit ihren amerikanischen Bewachern demokratische Schulungsprogramme
durchlaufen sollten , um danach als Multiplikatoren einer überzeugt antifaschistischen Ge-
sinnung wirksam zu werden.996 Eine besondere Einrichtung bildete dabei die im Novem-
ber 1944 im Camp Van Etten eingerichtete „Idea Factory“, die dann nach Fort Kearny auf
Rhode Island übersiedelte. Hier wurden 84 ausgewählte POW’s mit besonderen intellek-
tuellen Qualifikationen zusammengezogen , hauptsächlich , um eine hochqualitative , sanft
propagandistische Kriegsgefangenen-Zeitung für andere Gefangenenlager herauszuge-
ben ,997 von der unter dem Titel Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA
immerhin 26 Ausgaben in einer Auflage von 11. 000 Stück erschienen.998 Paradoxerweise
wurden die für dieses Projekt ausgewählten , „nicht-nationalsozialistischen“ und hochgra-
dig intellektuellen Gefangenen von den US-Lagerkommandanten
– ohne Unterschied zu
Kriegsgefangenen in anderen Lagern
– als „Kriminelle“ behandelt.999
Redaktionell gestaltet wurde die in englischer und deutscher Sprache produzierte Zeit-
schrift , die von den überzeugten Nazis in den Lagern
– trotz der nur vorsichtig artikulier-
ten Distanzierung vom „Dritten Reich“
– nicht zuletzt aufgrund der positiven Darstellung
Amerikas öffentlich boykottiert wurde ,1000 unter anderem von Mitgliedern der späteren
995 Henry W. Ehrmann , An Experiment in Political Education. The Prisoners-of-War Schools in the United
States. In : Social Research , 1947 , No. 14 , 304.
996 Die eher vagen Auswahlkriterien bildeten das bisherige Verhalten in den Lagern , sowie die nachweisliche
Nicht-Zugehörigkeit zur NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen. Das Training war auf „democra-
tic leadership“ ausgerichtet und sollte auch unter den bereits in Distanz zur NS-Ideologie befindlichen
Inhaftierten – so die nachträgliche theoretische Analyse – die demokratische Orientierung befestigen
helfen , denn es sei „ [ it is ] clear that also non-Nazis have to undergo a thorough reorientation before they
are able to help in deflecting the development of Germany into new channels.“ David M. Levy , The Ger-
man Anti-Nazi : A Case Study. In : American Journal of Orthopsychiatry , Juli 1946 , Vol. 16 , 507 f. Zit. nach :
Ehrmann , An Experiment in Political Education , a. a. O., 305.
997 Tatsächlich existierten bis Kriegsende auf Boden der USA rund 70 andere deutsche Lagerzeitungen ,
die zum Teil von den Kriegsgefangenen selbst gestaltet wurden ; schon allein wegen der Sprachbarriere
waren deren Inhalte jedoch kaum im erforderlichen Ausmaß zu kontrollieren. Robin , The Barbed-
Wire College. Reeducating German POWs , a. a. O., 60. Nach der bedingungslosen Kapitulation im
Mai 1945 schrieb beispielsweise die im Camp White ( Oregon ) herausgegebene deutsche Lagerzeitung
Heimat von der „blackest hour of our lives“. Zit. nach : Rafael A. Zagovec , Islands of Faith : National
Identity and Ideology in German POW Camps in the United States , 1943–1946. In : Zeitgeschichte , 29.
Jg., 2002 , Heft 3 , 116.
998 Theuermann , Umerziehung und Amerikabild , a. a. O., 93.
999 Robin , The Barbed-Wire College. Reeducating German POWs , a. a. O., 59 f.
1000 Theuermann , Umerziehung und Amerikabild , a. a. O., 86.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741