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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
An dieser , selbst elementare rechtliche Verfahrensgrundsätze außer Acht lassenden Pra-
xis der Sonderkommissionen übte die „Sonderoberkommission“ des Bundeskanzleramtes
schließlich harsche Kritik. In den im Mai 1946 erlassenen „Richtlinien für die Sonderkom-
missionen I. Instanz“
– geradezu ein Schlüsseldokument für die gängige Entnazifizierung
im öffentlichen Dienst – werden weit verbreitete Gepflogenheiten der Spruchpraxis , gra-
vierende juridische Mängel und unzulängliche Schlußfolgerungen der Sonderkommissi-
onen scharf kritisiert , wobei anhand der beanstandeten Beschlussverfahren ein insgesamt
geradezu fahrlässiges Vorgehen im Bereich der Entnazifizierung an Universitäten und im
höheren Schulwesen deutlich wird.
Einmal abgesehen davon , dass über die Beratungen und Abstimmungen oftmals keine
Verhandlungsprotokolle angefertigt wurden , die Erhebungsakten mitunter seltsame Wege
nahmen und bei Prüfungsverfahren oft nicht verfügbar waren und bei negativen Erkennt-
nissen zuweilen keine Rechtsfolgen ausgesprochen wurden – zum Beispiel Entlassungen
oder Ruhestandskürzungen
–, kritisierte die Sonderoberkommission vor allem die Art und
Weise , in der teils voreilige , teils „widersprüchliche“ und unsachliche , jedenfalls unzulässi-
ge „Erklärungen“ angeführt wurden , wie solche , dass die zu beurteilende Person aufgrund
„gute[ r ] dienstliche[ r ] Qualifikationen“ oder der „Unentbehrlichkeit“ die besprochene Ge-
währ bieten würde
– eine Argumentation , so die Sonderoberkommission , der „nicht zuge-
stimmt werden kann [ … ] , da die bezeichneten Umstände ein positives Erkenntnis nicht
zu rechtfertigen“1412 vermögen.
In der bereits zitierten Schrift der „Demokratischen Hochschullehrer Österreichs“ wur-
de ausdrücklich auf dieses in jener Zeit wiederholt verwendete „Lücken-Argument“ Bezug
genommen und den Sonderkommissionen empfohlen , die Entfernung von ehemaligen
NSDAP-Mitgliedern unter den Hochschullehrern beziehungsweise Lehrern als „eine Art
von Kriegsfolge zu betrachten“
– da ja der Krieg auch in sonstiger Hinsicht Lücken geris-
sen habe. In der Schrift heißt es dazu weiter :
„Der Begriff der Unersetzbarkeit muß zunächst überhaupt vom Gesichtspunkt der Größe des
möglichen Schadens betrachtet werden. Im Fall der nationalsozialistischen Hochschullehrer
handelt es sich um die Frage , ob ihre Entfernung rein fachlich einen größeren Schaden bedeu-
tet als ihre weitere Tätigkeit als Lehrer [ … ]. Glaubt wirklich jemand , darin keine Schädigung ,
keine schwere Gefährdung der Zukunft unseres Landes sehen zu können , wenn dort , wo es
um die geistige Formung der akademischen Jugend geht , ein Hochschullehrer , der [ … ] für
1412 ÖSTA / AdR , Bestand 02 , BMfU , Sonderkommission 1945–1946 , Richtlinien für die Sonderkommis-
sionen I. Instanz , 22. Mai 1946 , beigefügt dem Schreiben Zl. 510 / 34-SOK / 46 , Der Stellvertreter des
Vorsitzenden der Sonderoberkommission beim Bundeskanzleramt ( Dr. Urbantschitsch ) an den Liqui-
dator des Deutschen Reiches in der Republik Österreich , 18. September 1946 , 10. Kopie im Besitz d.
Verfassers.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741