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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
Wie die genannten Beispiele
– freilich in unterschiedlicher Tiefenschärfe
– zeigen , wa-
ren die politischen Säuberungen de facto , und zwar keineswegs nur an der Universität
Innsbruck , wie es Gerhard Oberkofler und Peter Goller im Hinblick auf die dortigen
Entnazifizierungsmaßen formulierten , längst „ein viele legistische Auswege bietendes
Verfahren ohne reale demokratische Basis geworden“.1469 Die universitäre Wiedergutma-
chung konzentrierte sich vor allem auf die Rehabilitierung der 1938 entlassenen Perso-
nen – teils Funktionäre des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes1470 – und nachweislich nicht
auf die Rückholung der zur Emigration gezwungenen österreichischen Wissenschafter
aus dem Exil. Verbunden mit diesen restaurativen Tendenzen im Universitätsbereich voll-
zog sich „Vergangenheitsbewältigung“ komplementär durch ( latentes ) Fortbestehen vor-
demokratischen , deutschnationalen und antisemitischen Gedankengutes ; keineswegs nur
in Einzelfällen kam es , wie sich anhand zahlreicher Fallbeispiele zeigt – trotz Entnazifi-
zierungsverfahren – auch zur Rehabilitierung von Universitätslehrern mit einschlägiger
NS-Vergangenheit. Dieter Stiefel hat diesen moralischen Umschuldungs- und Entschul-
dungsprozess auf die allgemeinen Entnazifierungsmaßnahmen in pointierter Weise fol-
gendermaßen charakterisiert :
„Das war der Sinn der Entnazifizierung : Strafe und Rehabilitierung gleichzeitig zu sein. Und
diesem doppelten Sinn entsprach auch die Logik des Ablaufs der politischen Säuberung in Ös-
terreich : Zuerst auf den Tisch hauen , dann Ordnung machen und schließlich alles verzeihen.“1471
1469 Peter Goller / Gerhard Oberkofler , Universität Innsbruck. Entnazifizierung und Rehabilitierung von Na-
zikadern ( 1945–1950 ), Innsbruck 2003 , 13 f.
1470 Um hier nur ein Beispiel zu geben , das sonst leicht untergehen könnte , sei auf Prof. Josef G[ eorg ] Kisser
( 1899–1984 ) verwiesen. Der Botaniker und Pflanzenhysiologe Kisser , der sich 1927 habilitiert hatte
und 1936 ao. Professor und Vorstand des Botanischen Instituts der Hochschule für Bodenkultur wurde ,
war im Austrofaschismus Fachreferent für Volksbildung innerhalb der Vaterländischen Front. Nach der
Enthebung Viktor Matejkas als operativer Leiter der „Volkshochschule ‚Volksheim‘ Ottakring“ wurde
Kisser von Bürgermeister Richard Schmitz gemäß dem neuen autoritären „Stadtgesetz zur Regelung
des Volksbildungwesens“ vom 12. August 1936 neuer Leiter dieser nun vollständig auf vaterländisch-
katholische Bildungsinhalte umgepolten Bildungseinrichtung. 1938 wurde Kisser „beurlaubt“ und 1940
wurd ihm die Lehrbefugnis entzogen. Nach 1945 kehrte Kisser , der 1941 als Offizier zur Wehrmacht
eingezogen wurde , an die Hochschule für Bodenkultur zurück , wo er bald darauf Ordinarius wurde.
Kisser saß neben anderen Exponenten des „Ständestaats“, wie u. a. dem Leiter Skrbensky , auch in der
Sonderkommission I. Instanz des Staatsamtes für Volksaufklärung , für Unterricht und Erziehung und
für Kultusangelegenheiten. Österreichisches Volkshochschularchiv ( ÖVA ), Wien , Personenkartei , Josef
Georg Kisser. Siehe dazu auch das Forschungsprojekt „Eliten / dis / kontinuitäten im Wissenschaftsbe-
reich in der Zweiten Republik. Zur Reintegration der im Nationalsozialismus aus ›politischen‹ Gründen
vertriebenen Lehrenden der Universität Wien nach 1945“: http://www.univie.ac.at/universitaet/forum-
zeitgeschichte/projekte/elitendiskontinuitaeten/[ Zugriff 14. 5. 2013 ].
1471 Dieter Stiefel , Nazifizierung plus Entnazifizierung = Null ? Bemerkungen zur besonderen Problematik
der Entnazifizierung in Österreich. In : Meissl ( Hrsg. ), Verdrängte Schuld – verfehlte Sühne , a. a. O., 35.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741