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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
Welche Art von ‚Abwehr‘ an den Hochschulen nunmehr geübt wurde – von der Frage
einmal ganz abgesehen , inwiefern bei der politischen Säuberungspraxis Zusammenhänge
zwischen Nazifizierung , „Entjudung“ und Entnazifizierung von Bedeutung waren – und
welche ( womöglich riskanten ) ‚Maßnahmen‘ für einen demokratiepolitisch ernst zuneh-
menden antifaschistischen Neubeginn an den ‚Hohen Schulen‘ getroffen wurden , darüber
geben unter anderem die Schriftstücke der Sonderkommissionen beredte Auskunft.
Bei Durchsicht der Verhandlungsschriften der Senate I und II sowie der Überprüfungs-
kommission im Unterrichtsministerium fällt auf , dass offenkundige Fakten oder auch Zeu-
genaussagen mitunter schlichtweg ignoriert wurden.1508 Darüber hinaus führen die Proto-
kolle zum Teil keine Begründung dafür an , warum der oder die Betreffende „die Gewähr
dafür bietet“, dass er / sie „jederzeit rückhaltlos für die unabhängige Republik Österreich
eintreten werde“. Schließlich finden sich überaus kuriose ‚Begründungen‘ für positive Ent-
scheidungen , die in leicht verändertem Wortlaut wiederholt aufscheinen , wie die , dass das
betreffende NSDAP-Mitglied „kein grosses Interesse an der Bewegung gezeigt“,1509 oder
die „illegale“ Mitgliedschaft zur NSDAP „lediglich einem Zufall zuzuschreiben“1510 sei.
Bezeichnenderweise wurde versucht , den Historiker Otto Brunner ,1511 der von 1941–
1945 Professor für „mittlere und neuere Geschichte“ an der Universität Wien war und auf
mer und Meißel zu zerstören. Der Hinrichtung nach dem Urteil des Volksgerichtsprozesses entzog sich
Lange durch Selbstmord. Siehe : Pfefferle / Pfefferle , Glimpflich entnazifiziert , a. a. O., a. a. O., 50.
1508 So zum Beispiel : Sonderkommission zur politischen Überprüfung an der Universität Wien , Senat I. Ge-
genstand : Dr. E. Z. Verhandlungsschrift über die am 28. Jänner 1946 vorm. an der Univ.-Kinderklinik
stattgefundene mündliche Verhandlung , Vorsitzender : Prof. Dr. Hans Planitz. UAW , Sonderbestand 90 ,
Sonderkommission ( SK ) 1945.
1509 Überprüfungskommission beim Bundesministerium für Unterricht ( Vorsitz : Sekt.-Chef. Dr. Skrbensky ),
Erkenntnis betreffend Gestaltung einer Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur für Dr. Hans
Rupprich , 28. Juli 1947 , UAW , Dekanatsakten der Phil. Fakultät , 1946 / 47 , GZ. 3847 / 307 / 2–46 / 47 ,
Sonderkommission ( SK ) 1945.
1510 Sonderkommission zur politischen Überprüfung an der Universität Wien , Senat I. Gegenstand : Dr. L. B.
Verhandlungsschrift über die am 19. Dezember 1945 vorm. a. der Univ.-Kinderklinik stattgefundene
Mündliche Verhandlung , Vorsitzender : Prof. Dr. Rudolf Köstler. UAW , Sonderbestand 90 , SK 1945.
1511 Otto Brunner ( 1898–1982 ), Mediävist und Archivar , war seit 1938 Parteianwärter und trat am 1. Septem-
ber 1943 rückwirkend bis 1941 in die NSDAP ein und leitete von 1942–1945 das Österreichische Institut
für Geschichtsforschung in Wien. Daneben hielt er an der Luftkriegsschule Vorträge über Geschichte.
Laut den Entlastungsaussagen der Professoren Havers und Rohracher sei „über seine Lehrtätigkeit an der
Universität selbst nichts Nachteiliges bekannt.“ Dessen ungeachtet qualifizierte der OSS-Entnazifizie-
rungsreport Brunner mit den Worten : „too dangerous to allow a P. G. to teach History“. Zit. nach : Entna-
zifizierung der Lehrkräfte der Universität Wien ( G.-Zl. 32141 / III–7 / 46 ). Enthalten in : Appendix „A“,
Report of Quadripartite Sub-Committee on Denazification in Austrian Universities , 7. September 1946.
NARA II , RG 260 , Box 11 , Folder 68. Records of the Unites States Occupation Headquarters , World
War II , USFA / USACA , Internal Affairs / Displaced Persons Division , Denazification Branch , General
Records , 1945–50 , 2 bzw. 4. 1954 wurde der 56-jährige Sozialhistoriker schließlich als ordentlicher Pro-
fessor nach Hamburg berufen. Vgl. Pfefferle / Pfefferle , Glimpflich entnazifiziert , a. a. O., 71.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741