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4. „The democratic way of life in Austria“
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onstendenzen des legitimistischen Lagers kaum zu einem ernsthaften politischen Faktor
entwickeln konnte.1630
Dass Winter nicht sehr umgänglich gewesen sein dürfte und auch durch so manche
formale und inhaltliche Eigenwilligkeit seiner gelehrten Aussagen auffiel , davon zeugt ein
geheimdienstliches OSS-Dossier , das im Jänner 1944 vor dem Hintergrund seiner öffent-
lichen Statements zur Moskauer Deklaration angelegt wurde.1631 Der Bericht , verfasst auf
der auf Grundlage eines Interviews , zeichnet ein wenig schmeichelhaftes Psychogramm
Winters , dessen Verhalten und Einstellungen als charakteristisch für die rückwärtsgewand-
te Flüchtlingsmentalität österreichischer und deutscher Emigrés – „most likely to lecture
about the advantages of their homeland“
– beurteilt wurde ; freilich ohne dabei viel auf Zwi-
schentöne zu achten. Dem Wortlaut des Berichts zufolge habe Winter kein gutes Haar am
Zustand der US-Armee gelassen , die seiner Meinung nach weit hinter dem Organisations-
grad des alt-österreichischen Heeres zurückliege und in Europa höchstens für einen Blitz-
krieg geeignet sei ; neben der Armee , die völlig neuorganisiert werden müsse , übte Winter
im Gespräch mit dem Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes zugleich Kritik an
der „Überorganisation“ ( „over-organization“ ) des US-War Departments. Im Hinblick auf
die Österreich-Frage gab Winter unmissverständlich zu verstehen , dass Österreich seiner
Ansicht nach von den Alliierten nach der Annexion in Stich gelassen worden sei ( „Austria
was let down“ ). Mit Bezug auf die kommende Nachkriegszeit habe Winter nach Meinung
des Geheimdienstmitarbeiters ziemlich „arrogante Ansichten“ geäußert : so zeigte er sich
erbost über den Wortlaut der Moskauer Deklaration , die Österreich „warnte“, zur Befreiung
einen Beitrag zu leisten. Wie Ernst Karl Winter bereits in einem in der New York Times
veröffentlichten Brief dargestellt hatte , sah er keinerlei historische Verantwortung der öster-
reichischen Bevölkerung für die unfreiwillige Teilnahme am Krieg Hitler-Deutschlands.1632
Im Gegenteil : In seinen Darlegungen verstieg sich Winter zu einem völlig aus dem Rah-
men fallenden Vergleich , indem er die in den Reihen der Deutschen Armee gefallenen
Österreicher mit den tschechischen zivilen Opfern beim SS-Massaker in Lidice verglich.
1630 Besonders deutlich formuliert findet sich dies in dem zitierten Bericht Jan Papaneks : „The Austrian emigra-
tion in the USA boasts several grotesque phenomena which make the solution of the Austrian problem still
harder [ … ] The presence of a representative of the House of Habsburg , who is to a number of people ‚His
Majesty‘ , makes many , who are not acquainted with European problems , believe the thesis that the solution
of all Central European questions would be reached by placing a monarch in Vienna [ … ]“. U. S. Office of
Strategic Services. Foreign Nationalities Branch Files 1942–1945. INT–4AU–114. Coordinator of Informa-
tion. Office Memorandum , A. Heckscher to Mr. Wiley , 18 May 1942 , Informationsbericht Papaneks , 12.
1631 Office of Strategic Services. Interoffice Memo , Sgt. Friediger to Mr. DeWitt C. Poole , „The Reverend
Franc Gabrovsek , Dr. E. K. Winter : Two Sceptical and Critical Exiles“, 13. Jänner 1944. U. S. Office of
Strategic Services. Foreign Nationalities Branch Files 1942–1945. INT–33AU–120.
1632 „Austrian Objects
– Moscow Declaration Viewed as Unfair to People“ ( Letter from Ernst Karl Winter ).
In : New York Times , 7. November 1943 , E11. Vgl. auch : „Austrian Exiles and the Moscow Declaration
on Austria. Memorandum for the Office of Strategic Services“, 17. November 1943 , 4. U. S. Office of
Strategic Services. Foreign Nationalities Branch Files 1942–1945. INT–33AU–120.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741