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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
1965 feierte die Wiener Universität ihr 600-jähriges Bestandsjubiläum ,1725 zu deren Fei-
erlichkeiten auch Kelsen eingeladen wurde , einen Vortrag zu halten. Bevor es aber dazu
kam , wurde er von Professor Taras Borodajkewycz1726 an der Hochschule für Welthandel ,
unter Applaus neonazistischer Studenten , mit antisemitischen Verbalattacken bedacht , so-
dass Kelsen , trotz einiger – wie sein Biograf Métall schreibt – „die Vorfälle bagatellisie-
render Berichte aus Wien“,1727 seine Teilnahme zurückzog. Im April 1965 schrieb Kelsen
an Justizminister Broda , dass er aufgrund der Tat sache , dass bei den Demonstrationen ,
„wie man mir aus Wien schreibt , sogar ein alter Mann getötet wurde“,1728 gezwungen sei ,
die Reise nach Wien abzusagen. Erst der Beschluss der öster reichischen Bundesregierung ,
Kelsen nicht als Gast der Universität Wien , sondern der Regierung einzuladen , vermochte
ihn schließlich umzu stimmen.1729
Immerhin wurde 1973 , im Todesjahr Kelsens , von der Bundesregierung ein Hans-Kel-
sen-Institut eingerichtet und im November 1984 wurde schließlich , nicht zuletzt initiiert
durch die Aktivitäten des Kelsens-Institutes , im Gedenken an den „großen Gelehrten und
hervorragenden Österreicher“1730 eine Büste enthüllt.
zur Emigration in die USA hatte verhelfen wollen , auch von der „späte[ n ] Dankespflicht unseres Landes ,
Kelsen gebührend zu ehren. Universität und Öffentlichkeit haben dies im Vorjahr durch die Verleihung
des Ehrendoktorates getan. Sein Vortrag an der Urania wird beweisen , daß er in den langen Jahren der
Abwesenheit seine Heimat nie vergessen hat.“ In : Mitteilungen der Wiener Urania , Juni 1962 , 2.
1725 Vgl. dazu den Hinweis bezüglich der 600-Jahr-Feierlichkeiten auf Seite 652 dieser Arbeit.
1726 Nach einer ( anonymen ) Vorlesungsmitschrift Ferdinand Lacinas wurden die antisemitischen und revisionis-
tischen Äußerungen des ehemals illegalen NSDAP-Mitglieds Borodajkewycz’ , der 1949 be reits im Kontext
der Oberweiser Geheimgespräche der ÖVP mit ehemaligen Nationalsozialisten her vor getreten war , publik
und sorgten für eine veritable Staatsaffäre mit Ausschreitungen , die schließ
lich zum Totschlag von Ernst
Kirchweger führten. Vgl. Maria Zimmermann , Die Affäre Borodajkewycz. Höhe- und Wendepunkt eines
antisemitischen und anti demokratischen Hoch schul skandals im Jahr 1965 – inhaltsanalytisch untersucht
am Beispiel von sechs öster
reichischen Tages zeitungen , Dipl.-Arb., Univ. Wien 2001 , 27 , 32 f. ; Gerard E.
Kasemir , Die Borodajkewycz-Affäre 1965. Spätes Ende für „wissen
schaftlich“ vorge
trage
nen Rassismus ,
Dipl.-Arb., Univ. Wien 1994 , 29 ; weiters : Erich Schmidt , Albrecht Karl Konecny , „Heil Borodajkewycz“.
Öster reichs Demo
kraten im Kampf gegen Professor Borodajkewycz und seine Hintermänner , Wien 1966.
1727 Métall , Hans Kelsen , a. a. O., 92 f.
1728 Hans Kelsens , Berkely , an Justizminister Christian Broda , 17. April 1965. Zit. nach : Heinz Fischer
( Hrsg. ), Einer im Vorder grund : Taras Borodajkewycz. Eine Dokumentation [ unter Mitarbeit von Hugo
Pepper ] , Wien – München 1966 , 133.
1729 Kabinettssitzung vom 22. April 1965. Zit. nach : Métall , Hans Kelsen , a. a. O., 92 f. Auch Verdross war
bemüht gewesen , Kelsen brieflich umzustimmen , indem er freilich die Situation in unglaub lich realitäts-
verzerrender Weise schönzureden versuchte : „Der sehr bedauerliche Zwischenfall an der Welthandels-
hochschule war eine ganz isolierte Erscheinung [ … ]. Abgesehen vielleicht ein paar Narren und Hinter-
wäldlern gibt es in Österreich seit 1945 keinen Antisemiten mehr , auch nicht an den Universitäten.“ Zit.
nach : Busch , Alfred Verdross , a. a. O., 38.
1730 Robert Walter , Hans Kelsen
– ein Leben im Dienste der Wissenschaft. Bericht über die Ent hüllung der
Büste Kelsens mit Ansprache der Herrn Bundesministers Dr. Heinz Fischer (= Schriften reihe des Hans
Kelsen-Instituts 10 ), Wien 1985 , 7.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741