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Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung
„Hat sie zum Beispiel niemals der Gruß ,Heil Hitler !‘ allein schon gestört , waren sie nicht
imstande , seine abgründige Idiotie zu empfinden , und von da aus aufsteigend Kausalitäten zu
erfassen , die eben zum Äußersten , zum Krieg und zu dem anderen , anfangs straff organisier-
ten , zum Schluß in Paroxysmus ausgeübtem Massenmord der Kon zentrationslager führte
– sie ,
deren Beruf als Wahrheitssucher es doch ist , Kausali täten zu durchschauen ?“1896
Wenn sich demnach
– so die durchdachte Argumentation jener zeitgenössischen Kritiker der
Wissen
schafts
politik nach 1945
– ehemalige national
sozialistische Hoch
schul
professoren , die
während des NS-Regimes zu den „geistigen Führern der Nation“ zählten , nun als ideolo
gisch
Verführte zu ent schul
digen versuchten , hätten sie damit gewissermaßen selbst ihr „intellek-
tuelles Ver
nichtungs
urteil gesprochen.“1897 Dass kritische Reflexionen dieser Art keineswegs
nur auf öffentlich verhandelte Einzel fälle zugeschnitten , sondern gleichsam ein Reflex auf
die gesell
schaft
liche Praxis einer spezifisch eindimensionalen Form von „Vergangenheitsbe-
wältigung“ ( nicht nur im akademischen Bereich ) waren , zeigt sich unter anderem auch am
Beispiel der universitären ‚Säuberungsmaßnahmen‘ in den einzelnen Bundesländern.
Besonders stark ausgeprägte restaurative Tendenzen sind im Fall der Universität Inns-
bruck festzustellen , wo die Diskriminierung liberaler , rational-moderner und demo krati-
scher Ansätze zugunsten einer katholisch-konservativen , vormodernen , anti intellektu-
ellen sowie antisemitischen Grundhaltung den traditionellen geistigen Humus bilde ten.
Trotz der Suspendierung zentraler NS-Hochschulfunktionäre wie des Historikers und
„Anschluss“-Rektors Harold Steinacker und anderer exponierter NS-Partei genossen ,1898
zeigt sich in der Säuberungspraxis nicht nur eine gewisse Beliebig keit , die nicht selten per-
sönliche Konkurrenz zur Grund lage hatte , sondern darüber hinaus auch dezidiert Bemü-
hungen um eine Rehabili tierung der „Opfer“ der Befreiung im Jahr 1945. Einige , mit selt-
sam verdrehten Argumenten begründete Weiter verwendungen von Lehr personen konnten
erst auf massiven Druck der französischen Militärbehörden ( temporär ) rückgängig ge-
macht werden.1899 Und das , obwohl auch in Tirol im Oktober 1945 Sonder
kommissionen
1896 Die Wehrlosen. Zum Problem der nationalsozialistischen Hochschullehrer. Ver einigung demo krati scher
Hochschullehrer Österreichs , Wien 1946 , 7.
1897 Ebd., 9 f.
1898 So bspw. die belasteten Philosophen Walter Schultze-Soelde und Walter Del Negro , der Althistoriker
Franz Miltner oder der Volkskundler Adolf Helbok. Vgl. Peter Goller / Gerhard Oberkofler , Universität
Innsbruck. Entnazifizierung und Rehabili tation von Nazikadern ( 1945–1950 ), Innsbruck 2003 , 14 ff.
1899 So im Fall des Leiters des 1939 errichteten „Erb- und rassen biologischen Instituts“, Friedrich Stumpfl ,
der erst 1946 auf Druck der französischen Besatzungsmacht entfernt wurde , wobei allerdings andere
NS-Aktivisten wie der Psychiatrieprofessor Hans Ganner oder der Physiologe Theodor Wense nach-
rückten. Ein anderer Fall in diesem Zusammenhang ist der am 15. April 1946 trotz positiven Erstü-
berprüfungsverfahrens an der Universität Innsbruck durch das ministerielle Ent nazi fi zierungs komitee
enthobene Geograf Hans Kinzl ( 1898–1979 ), der 1934 in Heidelberg dem SA-Sturm beigetreten war
und somit in Österreich nicht als „Ille galer“ gezählt wurde. Rektor Karl Brunner setzte sich gegen
starken Druck der französischen Militärverwaltung für die Belassung Kienzls ein , und zwar mit Erfolg :
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741