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5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg
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der geistigen Erneuerung und die moralische Verantwortung angesichts der unfassbaren
Gräuel zu verweisen , wie beispielsweise im Frühjahr 1946 :
„Dieses System dauerte in Deutschland seit 1933 , in Österreich seit 1938. Warum konnte es so
lange dauern ? Weil die grosse und vor allem auch die repräsentative deutsche und österrei-
chische Öffentlichkeit dazu geschwiegen hat. Weil sie feig und blind war. Weil sie sagte , sie
wüsste nichts davon , weil sie befürchtete , bei einer entscheidenden Stellungnahme dagegen
selbst ins KZ zu kommen. [ … ] Heute wird zwar zunächst ein bisschen registriert und dann wie-
der entregistriert. Dann wird vertuscht und gelogen. Es wird entschuldigt und entstellt. Es wird im
Trüben gefischt und die Spuren werden raffiniert verwischt. Das geht aber nur eine Zeitlang. [ … ]
Um aber zu verhindern , dass bis dorthin das Gedächtnis und das Gewissen einschläft , rufen
die Filme des Grauens die bisher Unbelehrbaren schon jetzt zur Besinnung , zur Einkehr , zur
Umkehr. Wer bisher noch nicht seine Schuld oder Mitschuld erkannt hat , wird es von hier ab
tun. Die Wahrheit des Filmstreifens die den Weg zur unaus schöpflich grausamen Wirklichkeit
weist , wird zur letzten Mahnung.“2225 [ Hervorhebung der Verfasser ].
Die weitgehend „unpolitische“ Kontrolle der US-Militärbesatzung in der unmittel
baren
Nachkriegszeit wurde ab 1946 / 47 von einem neuen Paradigma abgelöst , das zumindest ei-
nen langfristigen Planungs horizont der Demo
kratisierungs -Bemühungen aller mit dieser
Problematik befassten amerikanischen Einrichtungen – ob nun ziviler oder militärischer
Provenienz – zur Grundlage hatte , und Reeducation- beziehungs weise demokratische
Reorien tierungs-Maßnahmen in den Vordergrund rückte : die bisherige ‚Säuberungs-
politik‘ im Sinne eines
– mehr oder minder verlässlichen
– Austausches nur der Führungs-
positionen hatte demnach als Paradigma vollends ausgedient.
Bereits im Jänner 1945 hatte der militärische US-Geheimdienst OSS ein Memoran-
dum verfasst , das OSS-Interviews mit fünf prominenten deutschen Schriftstellern – Tho-
mas Mann , Alfred Döblin , Lion Feuchtwanger , Emil Ludwig und Bruno Frank – zur
Frage „What to do with Germany“ zusammenfasste. Darin zeigten sich die Befragten in
Bezug auf die Reeducation-Maßnahmen tendenziell skeptisch und vertraten den Stand-
punkt , dass Reeducation nur in Form einer demokratischen „Selbst erziehung“ Sinn ma-
chen würde. Feuchtwanger sah die Reeducation sogar als entbehrlich an , da die Wurzeln
des „Hitlerismus“ seiner Meinung nach in der deutschen Gesellschaft nicht besonders tief
verankert wären : schon eine länger dauernde militärische Präsenz würde dem nach effizient
genug sein , um insbesondere in der Jugend einen Einstellungs
wandel zu bewirken. Tho-
mas Mann meinte , dass die demokratische Vorbild wirkung und Führung der Alliierten
die wohl beste Form einer „Umerziehung“ wäre. Döblin sprach sich hingegen zwar für
2225 Viktor Matejka , Lager des Grauens. Rede gehalten anlässlich der Aufführung von Dokumentarfilmen
über die Lager Dachau , Buchenwald , Belsen , Majdanek , Auschwitz etc. In : Austro American Tribune.
Anti-Nazi Monthly , Vol. IV , No. 9 , April 1946 , 9.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741