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Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel
Im Juni 1945 hatte Iltis auf der Basis eigener Erfahrungen mit dem deutschen Wissen-
schafts system und , wie er formulierte , um einen „Dritten Weltkrieg“ zu vermeiden , ein
kurzes Manuskript mit dem Titel „Proposals regarding Control of German Science and
Education“ an den Secretary of Commerce , Henry A. Wallace ,2253 gesandt , der dieses Pa-
pier um gehend an Unterstaatssekretär Archibald MacLeish im State Department weiter-
leitete. Mit seinen Vorschlägen zum Wiederaufbau des deutschen Wissen
schafts systems
beabsichtigte Iltis nach eigener Aussage , einen Beitrag zu einer dauer haften Frieden-
sicherung zu leisten ; er schlug vor , sein Papier nach Möglichkeit an politische Entschei-
dungsträger weiterzuleiten , er selbst wollte jedoch anonym bleiben.
Das Manuskript ist insofern von Interesse , als die darin ausgeführten Überlegungen
scharfsinnig und pointiert formuliert sind und sich darüber hinaus in einem zentralen
Punkt von allen anderen Konzepten zur Rekonstruktion des Wissen
schafts bereiches un-
terschieden : Iltis plädierte für ein mindestens zweijähriges Moratorium bis zur Wiederer-
öffnung der Universitäten und Hochschulen in Öster reich und Deutschland nach Kriegs-
ende. Iltis begründete seinen Vorschlag für eine längerfristige Schließung
– im Gegensatz
zur möglichst frühen Öffnung der Volks- und Mittelschulen
– damit , dass die Universitä-
ten sowie das gesamte Wissen schaftssystem in der Zeit des National sozialismus die zent-
ralen „Brutstätten“ der Reaktion sowie der national sozialistischen Rassenideologie waren ,
deren autoritär-antidemo
kratische Wurzeln freilich weit in die Geschichte zurückreichen.
Neben dem „Land der Dichter und Denker“, das , so Iltis in seiner durchaus zutreffen-
den Einschätzung , zu weiten Teilen durch die wissenschaftlich-kulturellen Leistungen der
jüdischen Intelligenz mitgeprägt war , existierte jenes dumpf-völkische , reaktionäre und
rassistische Überlegenheits-Ressentiment unter Uni versitäts professoren und Oberlehrern
( „in Knickerbockers“ ), das auch Adolf Hitler als prägend für seine eigene Entwicklung be-
schrieb
– ein geistiges Klima , das den Weg zum „Land der Richter und Henker“2254 ebnen
half. In „Mein Kampf“ hatte sich Hitler bei seinem „an das nationale Ehrgefühl appellie-
rende[ n ]“ Geschichte-Lehrer an der Realschule in Linz , Dr. Leopold Pötsch ,2255 bedankt ,
der in ihm das „revolutionäre“ Interesse für „Geschichte“ entfacht hätte ; ein „Interesse“,
2253 Henry A. Wallace ( 1888–1965 ), 1933–1940 amerikanischer Landwirtschaftsminister , als Demo krat von
1941–1945 Vizepräsident unter Präsident Roosevelt. Nachfolgend Handelsminister in der Regierung
Truman. 1948 Präsidentschaftskandiat für die „Progressive Party“. Siehe : Graham White / John Maze ,
Henry A. Wallace. His Search for a New World Order , Chapel Hill 1995 ; John C. Culver / John Hyde ,
American Dreamer. The Life and Times of Henry A. Wallace , New York 2000.
2254 Hugo Iltis , Proposals Regarding Control of German Science and Education , 6. Beigefügtes Manuskript
zur Korrespondenz : Henry A. Wallace , Secretary of Commerce , Washington D.C., to Honorable Ar-
chibald MacLeish , Assistant Secretary of State , 11. Juni 1945. The U. S. Occupation of Germany : Edu-
cational Reform 1945–1949 , Microfilm-Collection , a. a. O., 1-A-13.
2255 Adolf Hitler , Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band , ungekürzte Ausgabe , München 1938 , 12. Zu
Hitlers Schrift siehe : Othmar Plöckinger , Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“: 1922–
1945 , 2. aktualisierte Aufl., München 2011.
Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration
- Untertitel
- US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941-1955
- Autor
- Christian H. Stifter
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 17.0 x 24.0 cm
- Seiten
- 762
- Schlagwörter
- US-Reorientierung, Amerika, USA, Besatzungszeit, Demokratisierung, Amerikanisierung, Entnazifizierung, Kalter Krieg, Österreich, Universität, Wissenschaft, Wien
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 11
- Einleitung 15
- 1. Images , Stereotype und Vorurteile – Herkunft und Veränderung der kulturellen Geringschätzung der USA in Europa seit dem 18. Jahrhundert 31
- 2. „ Education for Victory“ – US-Demokratisierungs-Konzepte und die zivilen Reeducation-Planungen für ein post-totalitäres Europa , 1941–1945 97
- „Education in Wartime“ – Nationalsozialismus als Fundamentalbedrohung der US-amerikanischen Zivilgesellschaft 99
- „Our Country’s Call to Service“ – konkrete Auswirkungen des Verteidigungs- und Abwehr-Diskurses 107
- Binnenamerikanische Reeducation : Stärkung nationaler Moral , Militarisierung des Bildungswesens und Bildungsreform 108
- Educational Reconstruction – Überlegungen und Konzepte 1942–1943 / 44 zur Demokratisierung nach Kriegsende 138
- „What to do with the mentally ill Germans ?“ Ursprünge , Entwicklung und Veränderungen der zivilen Reeducation-Konzepte , 1940–1944 157
- Exkurs : die österreichische Emigration in den USA – ein kultur- und bildungspolitisch folgenloses Kapitel für die Nachkriegsplanungen 175
- Spätphase der zivilgesellschaftlichen Überlegungen und Konzepte zur Reeducation und Reorientation 1943 / 44–1945 – langfristige Reorientierung als Paradigma 201
- Missing Link : Fehlende Umsetzung der Reorientierungs-Konzepte in die militärischen Planungen , 1943–1945 210
- „Takeover“ durch die U.S. Army : Wirrwarr und Kompetenzgerangel – Ausdünnung der Reorientation auf ‚unpolitische‘ Säuberungsmaßnahmen 210
- Randnotiz zu einem fehlgeschlagenen Experiment der US-Armee – POW-Camps zur Reeducation 228
- Zur Rolle Österreichs in der Reeducation-Planung der US-Militärstäbe 1943 / 44–1945 239
- Österreich – ein unklarer Planungsfaktor alliierter Politik bis 1944 / 45 239
- Militärisch-gremiale Detailplanung für Österreich – Administrationsunterlagen ohne Reorientation als Ergebnis 248
- 3. Beginn der US-Reorientierung nach 1945 – die Education Division als zentrale US-Militärbehörde 265
- 4. „ The democratic way of life in Austria“ – erste Umsetzungsphase bis zum Nationalsozialistengesetz 1947 : Zwischen Laissez Faire , strenger Observation und milder Beurteilung 277
- Kooperation statt Intervention und die Folgen für die Entnazifizierung im Bildungsbereich : das Fallbeispiel Universität 277
- Ausgangslage : Perspektive nötiger ‚Säuberungsmaßnahmen‘ 277
- Bestimmungen zur Entnazifizierung in US-Planungsdirektiven 288
- Die Ausgangssituation an den Universitäten im Frühjahr 1945 292
- Personalsäuberungen durch „Sonderkommissionen“ und deren Senate 318
- Entnazifizierung am Beispiel der Universität Wien 346
- Rückkehr unerwünscht ? – Maßnahmen zur Rückholung österreichischer WissenschafterInnen aus der Emigration 365
- Fallbeispiel : Ernst Karl Winter ( 1895–1959 ) 373
- Fallbeispiel : Hans Kelsen ( 1881–1973 ) 393
- Fallbeispiel : Felix Ehrenhaft ( 1879–1952 ) 404
- Wissenschaftspolitische Restauration und amerikanisch- österreichische Beziehungen. Ein Zwischenresümee 410
- Rahmenrichtlinien und Entnazifizierung der Studentenschaft an Österreichs Universitäten 427
- ÖH-Wahlen November 1946 : erste Großdemonstration gegen „nazistische Umtriebe“ in der Zweiten Republik und die Folgen 448
- Auswirkungen der Hochschulkrawalle : Turbulenzen im Alliierten Rat , Re-Screening der Studierenden und Lehrkräfte 477
- Turnaround in der Entnazifizierungspolitik – Kontroverse zwischen State Department und War Department 502
- 5. US-Reorientierungs-Planungen im Frühen Kalten Krieg : Zwischen Popularisierung des „American Way of Life“ und Psychologischer Kriegsführung , 1947–1950 517
- Longe Range Policy 1946 / 47 – Paradigmenwechsel : langfristige zivile Reorientierungs-Konzepte anstelle militärischer Kontrolle 517
- Elitenbildung über „Austauschprogramme“: zentrales Element der besatzungspolitisch auf gewer teten US-Reorientierung ab 1947 / 48 548
- Die ideologische Überformung der US-Reorientierung durch Propagandakampagnen des Kalten Krieges 562
- Cultural Exchange – Rahmenbedingungen der US-Kulturoffensive 562
- Reorientierung und psychologische Kriegsführung : „War of ideas“ – „Campaign of Truth“ – „Struggle for Minds“ 573
- 6. Endphase der Besatzung : Akademische Austauschprogramme und ihre Umsetzung in Österreich , 1950–1955 595
- Beginn der „U.S. Exchange“-Programme – Seltsamkeiten und Pannen 595
- Kurzer Exkurs : das Salzburg-Seminar – akademische Freiheit mit Hindernissen 609
- Umstrukturierung und Expansion : neuer Anlauf unter Supervision des U.S. Department of State 616
- Übernahme durch das State Department – Instrumentalisierung des „Exchange-Program“ als Teil der psychologischen Kriegsführung gegen die Sowjetunion 625
- ‚Phasing out‘ – zivile Verwaltung und Beginn der Normalisierung 638
- Schlussbemerkung 655
- Quellenverzeichnis 665
- Literaturverzeichnis 673
- Verzeichnis der Abkürzungen 735
- Personenverzeichnis 741