Seite - 129 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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Balkon in eine vorderste, exponiert vorkragende Ebene. Dem
nicht genug, sind alle größeren Wandflächen nach einem wohl
überlegten System mit plastischen Akzenten versehen, die selbst
der Ebene des Mauerwerks räumliche Spannkraft verleihen.
Formal deutlich unterschieden wird zwischen überaus reich
geschmückten repräsentativen Bauten und betont schlichten
Wehranlagen – eine Unterscheidung, die nicht zuletzt auch der
zeitgenössischen Differenzierung von » Monumentalbau « und
» Zweckbau « entspricht, die hier ins Mittelalter zurückprojiziert
erscheint. Die genaue Kenntnis der mittelalterlichen Architek
tur – vermittelt nicht zuletzt durch die reich illustrierten Publi
kationen von Viollet le Duc und Essenwein395 – war eine wich
tige Voraussetzung für den Bau von Kreuzenstein, und erst mit
dem Wissen über den Burgenbau des Mittelalters war es über
haupt denkbar, sich über die Beschränkungen des historisch
Wahrscheinlichen hinwegzusetzen und im Gegenzug mit allen
Mitteln die Bandbreite des Möglichen zu erproben, um Vergan
genheit visuell, haptisch und nicht zuletzt » authentisch « erfahr
bar werden zu lassen. Nur durch diese auf historischer Gewissheit
aufbauende Unbekümmertheit konnte hier das Muster einer mit
telalterlichen Burg errichtet werden, das zugleich denkbar weit
von allen realen Burgen des Mittelalters entfernt war.396
Interieurs
Mit derselben gestalterischen Konsequenz, die am Außenbau kei
nen Hinweis auf die tatsächliche Entstehungszeit im 19. und frü
hen 20. Jahrhundert zu geben gewillt ist, wurden auch die weit
über 60 Innenräume der Burg als Folge » authentischer « mittel
alterlicher Wohn
, Arbeits und Repräsentationsräume gestal
tet. » Mit reichen Schätzen hat der Burgherr [ … ] das traute Heim
in allen seinen Teilen bedacht, streng stilvoll, streng innerhalb
der Grenzen, welche die Bau Epochen anzeigen ; dieses Prinzip
ist in Hinsicht der Polychromie, der Skulpturen und der Einrich
tungsgegenstände, die aus aller Welt im Verlaufe vieler Jahre ge
sammelt wurden, festgehalten. «397 Die bis ins Detail durchge
stalteten und mit den Objekten der Sammlungen des Bauherrn
gefüllten Innenräume präsentieren sich in einem logischen funk
tionalen Zusammenhang, der fiktiv oder potenziell ist. Gleich
dem Außenbau erinnern die Innenräume Kreuzensteins, die Karl
Fuchs als » wahre Kabinettstücke mittelalterlicher Burgenhäus
lichkeit « bezeichnete,398 an von Menschen verlassene Schau
plätze von Historiengemälden. Es scheint, als sei hier die Abwe
senheit der Bewohner der Burg durch ein Übermaß an Dingen
129Interieurs
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258