Seite - 180 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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Alter und Authentizität
Kreuzenstein ist ein Hybrid aus zerstreuten und wieder versam
melten Dingen, aus » objets anciens « bzw. » objets trouvés «. Es
sind Objekte, die vor langer Zeit an einem anderen Ort zu einem
anderen Zweck hergestellt worden waren und eigens für Bau und
Ausstattung der Burg zusammengetragen, neu zusammengefügt
wurden. Das gemeinsame Kennzeichen dieser Objekte ist ihr Al
ter – im Sinne eines markanten zeitlichen Abgesetztseins von der
Gegenwart. Neu zusammengefügt sind sie in der Lage, eine neue
Erzählung zu bilden, » weitere › Bedeutungsschichten ‹ anzule
gen «.540 Auch im neuen Zusammenhang bleibt aber ihre Fremd
heit, ihr Anderssein gegenüber der Gegenwart, präsent. Aus den
Relikten zahlreicher zerstörter alter Texte wird im neuen Kon
text durch die Aussagekraft der Spolien und die Art und Weise
ihrer Zusammenfügung und Einbindung ein neuer Text geformt
– gleichsam ein umgekehrtes Palimpsest, denn hier schimmert
nicht der eine alte Text durch die darüberliegenden späteren
Texte hindurch, sondern der neue Text bedient sich vieler ein
zelner isolierter Fragmente unzähliger alter Texte, und diese ver
wirrende und flirrende Vielstimmigkeit ist es, die Ensembles wie
Kreuzenstein auszeichnet. Im Fall von Kreuzenstein beschreibt
der neu gebildete Text das Erscheinungsbild einer mittelalterli
chen Burg, vielleicht der mittelalterlichen Burg schlechthin.
Anders als Klaus Eggert, der die Spolien von Kreuzenstein als
ein Symptom geringen » schöpferischen « Vermögens gedeutet
hat,541 wird der Einsatz von Spolien und anderen historischen Re
likten hier als künstlerische und kreative Leistung verstanden.
Dies ist charakteristisch für eine Epoche, die zwar im Triumph
über die Geschichte und im Glauben an den Fortschritt von Wis
senschaft und Technik selbstbewusst in die Zukunft blickte, zu
gleich aber die Erfahrung einer begrifflich nicht mehr als Gan
zes fassbaren Welt mit dem Wunsch nach zumindest temporärer
Wiederherstellung und Vergegenwärtigung des Vergangenen zu
kompensieren versuchte.
In Kreuzenstein sollte diese Wiederherstellung möglichst um
fassend durchgeführt werden, weshalb neben dem Einbau von
Spolien auch andere Techniken der Authentifizierung und Verge
genwärtigung angewandt wurden. Die Historizität des Ortes, aus
gedrückt in der sichtbaren Einbeziehung der vorhandenen Rui
nen, war dabei genauso wichtig wie die historische, formale und
funktionale Logik der Gesamtanlage, ihre Einrichtung und nicht
zuletzt ihre mediale Inszenierung. Die Spolien von Kreuzenstein
wurden zu dem Zweck erworben, dem im Entstehen begriffenen
Bau der Burg sukzessive integriert zu werden ; mitunter konnten
180 Herrschaft der Dinge
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258