Seite - 183 - in Kreuzenstein - Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
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durchaus vom Lebendigen her, nicht aus Bilderbüchern, die von
Kustoden der Museen herausgegeben sind, als Archiv der Formen,
Grundbuch der Typen. «549
Zerstreuung und Sammlung
Walter Benjamin, der im » Passagen
Werk « versuchte, die » Ding
welt des 19. Jahrhunderts «550 zu analysieren, hat im Jahr 1935 –
von Karl Marx’ Charakterisierung der Ware als » Fetisch « ausge
hend – die » Verklärung der Dinge « dem Sammler zugeschrieben :
» Ihm fällt die Sisyphosaufgabe zu, durch seinen Besitz an den
Dingen den Warencharakter von ihnen abzustreifen. Aber er
verleiht ihnen nur den Liebhaberwert statt des Gebrauchswerts.
Der Sammler träumt sich nicht nur in eine ferne oder vergangene
Welt, sondern zugleich in eine bessere, in der zwar die Menschen
ebensowenig mit dem versehen sind, was sie brauchen, wie in
der alltäglichen, aber die Dinge von der Fron frei sind, nützlich zu
sein. «551 Und in den Materialien zum Passagen
Werk heißt es wei
ter : » Vielleicht läßt sich das verborgenste Motiv des Sammelnden
so umschreiben : er nimmt den Kampf gegen die Zerstreuung auf.
Der große Sammler wird ganz ursprünglich von der Verworren
heit, von der Zerstreutheit angerührt, in dem ( sic ! ) die Dinge sich
in der Welt vorfinden. «552
Kreuzenstein ist ein Ort, an dem sich die Dingwelt des 19. Jahr
hunderts, aber auch der mitunter fetischistische Charakter des
» Kults der Dinge «553 bis heute nachvollziehen lassen. Ist schon
der Außenbau mit seiner exzessiven Anhäufung von Spolien da
von gekennzeichnet, so offenbart sich die Herrschaft der ( mo
bilen ) Dinge in Kreuzenstein vollends im Interieur, wo mithilfe
unzähliger ( aus )gesuchter Objekte der materiellen Kultur fik
tive Geschichtlichkeit präsentiert wird. Hier war ein Sammler am
Werk, der die von ihm zusammengetragenen Dinge zu begehba
ren Bildern ordnete, aus ehedem zerstreuten Bestandteilen eine
neue Wirklichkeit konstruierte.
Die Ausstattung der Räume weist auch Parallelen zur zeitge
nössischen Wohnkultur auf. In Jacob von Falkes bekannter Schrift
» Die Kunst im Hause «, Synonym für das auf der Grundlage der Er
forschung historischer Formen entwickelte Wohnen im Historis
mus, wird umgekehrt die vorbildliche Wirkung des Sammlers für
das Interieur der Gegenwart betont.554 Es überrascht daher nicht,
dass sich die Interieurs jener großbürgerlichen und aristokrati
schen Wohnsitze des ausgehenden Jahrhunderts, wo hochrangige
Kunstsammlungen und repräsentatives Wohnen aufs engste mit
einander verbunden waren, aufgrund ihres ähnlichen Umgangs
183Zerstreuung
und Sammlung
Kreuzenstein
Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Kreuzenstein
- Untertitel
- Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne
- Autor
- Andreas Nierhaus
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2014
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79557-5
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 258