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Zeit einer klärenden Zusammenfassung, einer Überschau und die Herausforde-
rung zu neuen dringenden Aktivitäten schien gekommen.20
Am 18. Dezember 1961 fand die feierliche Eröffnung – „ohne Streichquartett“,
wie auf der Einladung zu lesen war – statt. Heimito von Doderer, der der ÖGL
bis zu seinem Tod 1966 verbunden bleiben sollte, las aus einem Kapitel des damals
noch unveröffentlichten Romans Die Merowinger oder Die totale Familie (1962),
nachdem am Beginn „dieser erquickend kurz und sachlich gehaltenen Feier“21
die Zielsetzungen der ÖGL dargelegt worden waren. Die Wahl, Doderer zur
Eröffnung einzuladen, dürfte auch darauf zurückgegangen sein, dass der Staat-
spreisträger des Jahres 1957 der repräsentativste Vertreter in der österreichischen
Erzählprosa nach 1945 war und mit seinem Werk an die österreichischen Klas-
siker des modernen Romans anschloss, jedoch im Gegensatz zu den bereits ver-
storbenen Schriftstellern Robert Musil oder Hermann Broch an der Erzählbar-
keit der Realität festhielt.22 Zu hören waren noch Originalaufnahmen von
Lesungen zweier Antipoden der österreichischen Literatur, die politisch nicht
weiter voneinander entfernt sein könnten: Karl Kraus und Josef Weinheber.
Die Gründung der ÖGL, die ihre organisatorische Tätigkeit bereits im Früh-
jahr 1961 aufgenommen hatte, fand eine breite Aufnahme in in- und ausländi-
schen Medien. Die von der ÖGL ausgehende Initiative wurde von der „Arbei-
ter-Zeitung“ begrüßt, die darauf hinwies, dass Österreich zwar Autorinnen und
Autoren, „aber keine Literatur, oder doch nur Ansätze dazu“ habe und resümier-
te: „eine Literatur kann man nicht machen, man kann jedoch dazu beitragen,
daß aus Büchern und Autoren eine Literatur entsteht“.23
In der „National Zeitung Basel“ stand zu lesen, das herausragende Merkmal
der ÖGL sei, dass sich „hier der Staat […] an einer Institution beteiligt, die es
ihm erlaubt, als Mäzen aufzutreten, ohne dabei die unerwünschten Begleiter-
scheinungen einer staatlich geförderten Literatur zu provozieren“; die ÖGL wird
als „unabhängige Instanz“ bezeichnet, die quasi zwischen „Staat und Autor“
geschaltet sei.24 Dass die ÖGL jedoch in kulturpolitischer Hinsicht durchaus
Weisungen des Subventionsgebers folgte, wird in der Folge darzustellen sein.
20 Kraus: Zwischen Trümmern und Wohlstand. In: Zeman (Hg.): Geschichte der Literatur in
Österreich, S. 596 f.
21 N. N.: „Gesellschaft für Literatur“ hat ihre Tätigkeit begonnen. In: Die Presse, 19. Dezember
1961.
22 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Erzählprosa. In: Viktor Žmegač: Geschichte der deutschen Litera-
tur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. III/2. Frankfurt/M.: Athenäum 1994, S. 725–
746, hier S. 725 f. Doderer las auch 1959 bei der Eröffnung des „Forum Stadtpark“ in Graz.
23 N.
N.: Eine Österreichische Gesellschaft für Literatur. In: Arbeiter-Zeitung, 20.
Dezember 1961,
S. 6.
24 Vgl. National-Zeitung Basel, 30./31. Dezember 1961.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
86 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437