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Dass die ÖGL eine „Organisation der Mitte“ sei, hat Reinhard Urbach in einem
Artikel in der „Tiroler Tageszeitung“ festgehalten; das Ziel der Gesellschaft sei
es nicht auszusondern, sondern vielmehr auszuwählen, betont Urbach: „Sie will
nicht ‚jedem etwas‘, sondern jedem vieles bringen. Dazu gehört ein Höchstmaß
an Toleranz, an Qualitätsbewußtsein ebenso wie an Gerechtigkeit.“ Er weist dar-
auf hin, dass sich die ÖGL nie dem Experiment verschlossen habe, sondern „es
im Gegenteil geübt und gefördert“ habe: „Das Programm sammelte viele Rich-
tungen. Tradition und Avantgarde, Erinnerung und Analyse haben nebenein-
ander Platz. […] So versteht sich die [ÖGL] nicht als ein Museum, als Konser-
vierungsanstalt des Bestehenden, sondern als Ort der Vermittlung des
Gegenwärtigen, also als Ort, an dem das unmittelbar Aktuelle – mit dem Über-
lieferungswürdigen verschmolzen – zur Entwicklung neuer gesellschaftlicher
Strukturen und künstlerischer Formen kommt.“151
Im Oktober 1971 las etwa Heinz R. Unger, der später die Songtexte für die
Rock-Gruppe „Schmetterlinge“ verfassen sollte, aus seinem ersten Lyrikband In
der Stadt der Barbaren vor. Die Besprechungen der Veranstaltung in „Kurier“,
„Arbeiter-Zeitung“ und „Salzburger Nachrichten“ sind dabei nicht sehr enthu-
siastisch. Letztere vermerkte, dass der Text sich eigentlich nicht zum Vorlesen
eigne, jedoch die gemischte Form der Präsentation durch Wandprojektionen
und musikalische Untermalung „zur Lektüre des […] Bändchens anregen“152
sollte.
Ende November 1973 stellten sich jene Autoren vor, welche die Gruppe
„Wespennest“ konstituierten. Dazu zählten Friedemann Bayer, Gustav Ernst,
Heinz Knienieder, E.
A. Richter, Christian Wallner und Helmut Zenker, die einen
„Neuen Realismus“ in der österreichischen Literatur forderten, der in der Folge
der 68er-Bewegung entstanden war. Die Mitarbeiter der Zeitschrift „Wespen-
nest“ und die Initiatoren des 1971 entstandenen „Arbeitskreises österreichischer
Literaturproduzenten“ (darunter Gustav Ernst, Peter Henisch, Michael Scharang,
Peter Turrini, Helmut Zenker u. a.) proklamierten zunächst eine „radikale Poli-
tisierung der Literatur als Kulturkampf – ‚nicht nur indem man politische Vor-
gänge schildert, sondern indem man politische Vorgänge auch dort sieht, wie
[sic] man sie bisher entschieden nicht hat sehen wollen, im Seelenleben des
Menschen, im intimsten Zusammenleben‘“.153
Anlässlich dieser Veranstaltung hat Kraus, dem ein Gespräch mit dem gera-
de in Wien weilenden Elias Canetti noch gegenwärtig war, in seinem Tagebuch
151 Reinhard Urbach: Toleranz und Experiment: Die Gesellschaft für Literatur 1969/70. In: Tiroler
Tageszeitung, 29. August 1970.
152 U. B.: „New York wird untergehen“. In: Salzburger Nachrichten, 23. Oktober 1971.
153 Zeyringer: Österreichische Literatur nach 1945, S. 161.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
122 Die Österreichische Gesellschaft für Literatur (1961–1975)
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437