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Vision einer für unsere Zeit brauchbaren Lebensform zu finden und zu gestalten?
[…] Bestimmte Anzeichen sprechen sogar dafür, daß man heute ‚nein sagen selber
kann‘ und dazu nicht erst den Schriftsteller braucht und man beginnt, da es kaum
neues Positionelles gibt, nach Alten auszuschauen, ja es käme vielleicht noch zur
Groteske, daß das untaugliche Vorvorgestern […] zur Mode, und der Konserva-
tismus der letzte Schrei würde. Wenn nicht doch eines Tages eine neue echte lite-
rarische Position entsteht.133
An der Erarbeitung neuer literarischer Themen aus dem Geist der „untauglichen
Positionen“ des „Vorvorgestern“, die reaktiviert und urbar gemacht werden soll-
te, arbeitete Kraus beständig mit. Seine literaturästhetischen und -politischen
Standpunkte wirkten in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren nicht mehr
sehr zeitgemäß, wenn sie nicht bereits überholt waren.
In der Folge soll Kraus’ literaturkritisches Œuvre hinsichtlich seiner Mecha-
nismen der Auswahl und Bewertung näher untersucht, um in der Begrifflichkeit
der Kanon-Theorie zu bleiben, sein „als verbindlich geltendes Textcorpus“ dar-
gestellt werden, womit jene literarischen Texte markiert werden, die Kraus „als
exemplarisch ausgezeichnet und daher für besonders erinnerungswürdig“134
innerhalb der österreichischen Literatur nach 1945 hielt.
Exkurs: Ein Förderer österreichischer Autorinnen und Autoren?
In Bezug auf die Förderungstätigkeit junger österreichischer Autorinnen und
Autoren erinnert sich Anna Mitgutsch an die Präsentation ihres ersten Romans
Die Züchtigung in der ÖGL im Jahr 1985: „Dr. Kraus gehörte keiner Seilschaft
an. Und er hofierte mich nicht, wie manche andere, als eine plötzlich prominent
gewordene Autorin. Aber er behandelte mich auch nicht, wie andere, als eine
Anfängerin, die erst beweisen muß, daß sie überhaupt etwas kann. Sondern er
empfing mich wie eine Schriftstellerin, der er zutraute, daß sie weiterschreiben
würde, und der er aber auch mit Rat und konkreter Hilfe zu Seite stehen wür-
de.“135 Mitgutsch führt aus, dass Kraus der einzige ihrer „anfänglich zahlreichen
Entdecker“ gewesen sei, der sich selbst dann „nicht zurückzog, als ich literarisch
einen Weg ging, den man offenbar von mir nicht zu erwarten schien“136 und
133 Ebd.
134 Rainer Rosenberg: Kanon. In: Harald Fricke [u. a.] (Hg.): Reallexikon der deutschen Literatur-
wissenschaft. Bd. 2: H–O. Berlin, New York 2000, S. 224–227, hier S. 224.
135 Anna Mitgutsch: Wolfgang Kraus als Förderer junger SchriftstellerInnen. In: Bassola, Kiss
(Hg.): Literatur als Brücke zwischen Ost und West, S. 64–67, hier S. 64.
136 Ebd., S. 65.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
228 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437