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gend. Man legt es weg und denkt dann wohl in ganz anderer Richtung weiter.
Ein grausames Buch, tatsächlich, gegenüber dem Kalkwerk ist alles andere eine
Idylle.“181 Darüber hinaus organisierte er in Kooperation mit dem italienisch-ös-
terreichischen Kulturkreis an der Universität Triest ein erstes Thomas-Bern-
hard-Symposion, das vom 27. bis 28.
Jänner 1977 im Teatro Verdi in Triest unter
der Leitung von Claudio Magris stattfand. Die Anwesenheit des Autors war hier
ein Novum: „Was offenbar in anderen Branchen niemanden verwundert, gilt in
der Literaturwissenschaft als unüblich: ein Symposion über das Werk eines
Lebendigen, noch dazu in dessen Anwesenheit.“182 Zu den Vortragenden zähl-
ten Literaturwissenschaftler und Germanisten, darunter Alfred Focke SJ, Sigurd
Paul Scheichl, Renato Saviane, Hilde Spiel, Herbert Gamper sowie Wendelin
Schmidt-Dengler, der die Frage beantwortete, warum Bernhard sogar im Aus-
land ein Symposion gewidmet wurde: „Bernhards Texte […] ‚führen so wie nur
wenige andere nahe an die Frage nach der Möglichkeit, moderne Literatur zu
interpretieren, heran.‘“183 Focke, so Hilde Spiel in ihrer Besprechung des Sym-
posions, dominierte mit seinen Überlegungen, da er versuchte, Bernhards Werk
„dem totalen Nihilismus zu entreißen“ und neben der Analyse von Einzelwer-
ken „wandte man sich der heikelsten Thematik der Tagung, Bernhards Mangel
an Sozialbewußtsein“ zu, wobei Scheichl dem Autor eine „permanente Rhetorik
der Aggression“ und „Provokation als Selbstzweck“184 vorwarf.
Mit Bernhard führte Kraus zwar ein „gutes, von großer Sympathie bestimmtes
Gespräch“, über „viele Jahre hinweg“,185 jedoch konnte er sich mit dessen Spätwerk
nicht mehr richtig anfreunden. Eventuell verzieh er ihm die Polemik in der „Zeit“
gegen Elias Canetti nicht, in der Bernhard diesen als „Schmalkant und Klein-
schopenhauer“186 bezeichnet hatte. Als Bernhards Skandalroman Holzfällen (1984),
in dem er seinen ehemaligen Förderer, den Komponisten und Schriftsteller Ger-
hard Lampersberg in der Figur des Auersberger literarisch verewigte sowie einige
Akteure des Literaturbetriebs kaum verfremdet auftreten ließ, hielt Kraus für sich
selbst fest, dass das „Buch bei stärker veränderten Namen ebenso gut“ gewesen
wäre: „Man erfährt viel über die Künstlergesellschaft in Wien, an der ich immer
vorbeigelebt habe – mit Absicht“.187 An Peter Handke schrieb er anlässlich der
Lektüre von Auslöschung (1986), dass Bernhard sich „dem Effekt, der in der Des-
181 Ders.: Mord im Kalkwerk als Symbol für das Heute. In: Kölnische Rundschau, 18. November
1970.
182 Hans Haider: Betroffenheit beim Reden über einen Betroffenen. In: Die Presse, 1.
Februar 1977.
183 Ebd.
184 Hilde Spiel: Ein Autor inmitten seiner Interpreten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.
Feb-
ruar 1977.
185 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 26. Jänner 1976, NL WK.
186 Thomas Bernhard: Leserbrief. In: Die Zeit, 27. Februar 1976.
187 Wolfgang Kraus: Tagebuch, 6. September 1984, NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
238 Wolfgang Kraus und die österreichische Literatur
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437