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Die Grazer Autorenversammlung gegen Kraus
Die meisten Angriffe, denen Kraus ausgesetzt war, gingen von linken literari-
schen Gruppierungen bzw. Intellektuellen aus. Ein Widerpart zu Kraus’ hege-
monialer Stellung im literarischen Feld sollte die „Grazer Autoren Versammlung“
(GAV) werden, die im März 1973 als Antipode zum österreichischen P.E.N.-Club
gegründet worden war. Seit Dezember 1972 gehörte Kraus, neben Karl Bedna-
rik, Herbert Eisenreich, Fritz Habeck und Friedrich Heer, unter P.E.N.-Präsident
Ernst Schönwiese und Vizepräsident Milo Dor dem Vorstand an.397 Die GAV
war aus einem Literatursymposium des Festivals „steirischer herbst“ zum The-
ma „Formen der Selbstverwaltung im Kulturbereich“ hervorgegangen. Der unmit-
telbare Anlass für die Gründung war der Rücktritt des (erz-)konservativen Schrift-
stellers Alexander Lernet-Holenia als P.E.N.-Präsident, der aus Protest gegen die
Verleihung des Nobelpreises an Heinrich Böll (1972) sein Amt niedergelegt hat-
te.398
Die Gründung der GAV verdankt sich dem kulturellen Aufschwung zu Beginn
der 1970er Jahre, ersetzte jedoch die traditionalistischen und verkrusteten Struk-
turen im literarischen Feld nicht, sondern „etablierte eine eigene Welt, in der
die international beachtete Kultur der Zeit stattfand“, während „die überkom-
menen konservativen Netzwerke weiter existierten“399, die zwar staatlich unter-
stützt, aber zunehmend ihrer Bedeutung beraubt wurden. „Achsenzeit“, im Sin-
ne von Karl Jaspers voneinander unabhängigen Kulturräumen, nennt Franz
Schuh diese Zeit um den Anfang und die Vorgeschichte der 1970er Jahre.400
Auch Robert Menasse gibt in seinem Essay Die Entwicklung des österreichischen
Literaturbetriebes und seine Strukturierung im Geist der Sozialpartnerschaft zu
bedenken, dass sich der politische und literarische Pluralismus zu Beginn der
1970er Jahre zu einem „kampflosen Sichnebeneinanderstellen“401 entwickelt
habe.
Dennoch war die GAV „organisatorischer Ausdruck der realen Veränderun-
gen im Literaturbetrieb“402 und erhielt ab 1974 öffentliche Subventionen in bei-
397 Vgl. Roland Innerhofer: Die Grazer Autorenversammlung (1973–1983). Zur Organisation einer
„Avantgarde“. Wien, Köln, Graz: Böhlau 1985, S. 27.
398 Vgl. ebd., S. 25 f.
399 Franz Schuh: Alleingang und sozialer Sinn. Erinnerungen an Ernst Jandls Kulturpolitik. In:
Bernhard Fetz, Hannes Schweiger (Hg.): Die Ernst Jandl Show. St. Pölten: Residenz 2010, S.
115-123, hier S. 116.
400 Ebd.
401 Robert Menasse: Die Entwicklung des österreichischen Literaturbetriebes und seine Struktu-
rierung im Geiste der Sozialpartnerschaft. In: Ders.: Das war Österreich. Gesammelte Essays
zum Land ohne Eigenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 138-171, hier S. 167.
402 Polt-Heinzl: Kulturskandale der 1970er Jahre. In: Dies. (Hg.): Staatsoperetten, S. 12.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Polemiken und Kämpfe im Feld 283
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437