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nierte. Kraus dürfte bereits früh ein aufmerksamer Beobachter der staatlichen
Kulturpolitik oder zumindest gut darüber informiert gewesen sein, welche kul-
turpolitischen Konzepte gerade im Trend lagen. Seit den 1950er Jahren setzte er
sich als Publizist in Artikeln und Feuilletons mit diesem Themenkomplex aus-
einander, einerseits auf der Ebene der Literaturpolitik, andererseits auf der Ebe-
ne der Auslandskulturpolitik. So berichtete Kraus in einer Glosse aus dem Jahr
1956, dass die Literatur in kulturpolitischer Hinsicht „augenblicklich zu den
Wiener Stiefkindern“ zähle und „sich auf ein paar in der Stille wirkende Männer
zurückgezogen [habe], von denen die Öffentlichkeit nicht allzu viel Notiz“57
nehme. Er moniert, dass die Wiener Kaffeehäuser nicht mehr von „hochlitera-
rischen Diskussion widerhallen, wie einst zur Zeit von Karl Kraus und Stefan
Zweig“ und die Autorinnen und Autoren entweder abgewandert seien oder sie
„sitzen daheim und ergehen sich in trüben Gedanken“.58 Seine Vorstellungen
dürften mit der Kulturpolitik Heinrich Drimmels nicht vollkommen kongruent
gewesen sein, denn 1958 warf er dem „Wiener Kulturministerium ebenso wie
der Außenpolitik am Ballhausplatz“ vor, sie scheue sich, mit „publizistischer
Propaganda zu arbeiten“ und setze „alles auf Gespräche hinter vier Wänden“.
Kraus’ Vorschlag war, die Position der „neugewonnenen Neutralität im Rahmen
eines großen Konzepts“ als kulturpolitischen Motor zu nutzen: „Man hat sich
im Unterrichtsministerium eine sehr österreichische Praktik zurechtgelegt –
man will im Osten für die westliche Welt Terrain gewinnen. Bundeskanzler Raab
sprach eben jetzt von einer ‚missionarischen Aufgabe‘, die Österreich nun zu
erfüllen habe. Und demgemäß arbeitet man ebenso still wie unermüdlich, um
die geistige Ausstrahlung nach Österreich nachdrücklich zu steigern.“59 Um
1967, also knapp zehn Jahre später, sah Kraus, zu dieser Zeit bereits mit der ÖGL
bestimmten kulturpolitischen Leitlinien folgend, die österreichische Kulturpo-
litik vor dem „ungeheuren Problem“ stehen, „in und mit dem heutigen Sieben-
millionenstaat dem Anspruch eines einstigen Großstaates gerecht zu werden“,
wobei er darauf hinwies, dass die Regierung versuche, im „Eisernen Vorhang“
„Türen zu öffnen, wo dies am leichtesten möglich war: man öffnete sie mit dem
Schlüssel von Kunst und Kultur“.60 Diesem Konzept, dem eine durchaus kom-
pensatorische Qualität inhärent war, die den Zerfall der Donaumonarchie mit
kulturellen Mitteln kompensieren sollte, sollte Kraus als Leitfaden seiner kul-
turpolitischen Ambitionen dienen (vgl. dazu auch Kapitel 4.1.1).
20. Jahrhundert. Wien: Carl Ueberreuter 1994, S. 454.
57 Wolfgang Kraus: Frühling in Wien, April 1956, ms. Ts., NL WK.
58 Ebd.
59 Wolfgang Kraus: Kultur im Aufbruch. Österreich aktiviert seine Kulturpolitik. In: Südwest-Pres-
se, 12. Juli 1958.
60 Ders.: Kunst des Regierens und die Künste. Akzente der Kulturpolitik in Österreich, dat. 1967,
ms. Ts., NL WK.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
310 Kontaktperson, Vermittler, Dolmetscher
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437