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In den 1960er Jahren war Kraus’ Stern am Aufgehen, denn es wurde zuneh-
mend eine „Staatsliteratur“61 protegiert, und diese „Dekade der Etablierten“ war,
wie Hilde Spiel formulierte, eine „satte zufriedene Zeit […], dem friedlichen
Genuß eines stetig wachsenden Wohlstandes mehr als den kulturellen Stimu-
lantien, Appellen oder gar Erschütterungen zugetan“.62 Im Verlauf des Jahrzehn-
tes begann sich ein Paradigmenwechsel vorzubereiten, u. a. mit der Gründung
der ÖGL (1961), der Zeitschrift „manuskripte“ (1960), den „protokollen“ (1966)
und schließlich mit dem „Wespennest“ (1969), der sukzessive für eine Ausdif-
ferenzierung des literarischen Feldes sorgte.
Ab 1966 war die Koalition ÖVP/SPÖ durch die Alleinregierung der ÖVP abge-
löst, was für Kraus durchaus goldene Zeiten bedeutete, verband ihn doch eine
enge Freundschaft mit dem amtierenden Bundeskanzler Josef Klaus, dessen
moderner Konservativismus „in der christlich-humanistischen Kultur des Abend-
landes und ihres Wertekanons“63 verankert war. Klaus, ein „Gegner aller ‚zerset-
zenden‘ Modernismen“,64 sah sich in der Tradition des christlich-sozialen Poli-
tikers Franz Rehrl, der „die geist-kulturelle Situation Österreichs mit einer
Ellipse verglichen hatte, deren beide Brennpunkte Wien und Salzburg bildeten.“65
In einem Interview merkte Klaus an, dass Kraus eine „große Hilfe“ hinsichtlich
der von der ÖVP forcierten Ostkontakte gewesen sei: „Zwischen uns bestand
eine noble Freundschaft, die zwar nicht in eine Du-Freundschaft überging, die
aber zu häufigen Begegnungen und Beratungen über verschiedene kulturpoli-
tische Angelegenheiten führte. […] Sein unglaubliches Faible für alles Österrei-
chische behielt er aber zeitlebens bei.“66
1970 folgte die Alleinregierung der SPÖ, ab 1971 mit einer absoluten Mehr-
heit, die bei den Wahlen in den folgenden Jahren gehalten werden konnte. Der
kulturpolitische Aufbruch zu Beginn der „Ära Kreisky“ weckte die Hoffnungen
der Literaturschaffenden. Für die 1970er Jahre hat Michaela Judy konstatiert,
dass „Kulturpolitik als Fortsetzung der Sozialpolitik“ gepflegt wurde, die der
61 Vgl. Paul Kruntorad: Literaturentwicklung in Österreich 1945–1967. In: Fischer (Hg.): Litera-
tur in der Bundesrepublik Deutschland, S. 642 f.
62 Hilde Spiel: Die österreichische Literatur nach 1945. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Die zeit-
genössische Literatur Österreichs. Zürich, München: Kindler 1976 (= Kindlers Literaturge-
schichte der Gegenwart), S. 95–100, hier S. 100.
63 Robert Kriechbaumer: Die Ära Klaus. Aufgeklärter Konservativismus in den ‚kurzen‘ sechzi-
ger Jahren in Österreich. In: Ders. (Hg.): Die Ära Josef Klaus. Österreich in den ‚kurzen‘ sech-
ziger Jahren. Bd. 1: Dokumente. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1998, S. 9–98, hier S. 18.
64 Ebd.
65 Ebd.
66 Josef Klaus: Ich ging den anderen Weg. In: Helmut Wohnout (Hg.): Demokratie und Geschich-
te. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen
Demokratie in Österreich. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999, S. 13–63, hier S. 54.
Open-Access-Publikation im Sinne der CC-Lizenz BY 4.0
Jenseits der Parteipolitik? 311
Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Title
- Wolfgang Kraus und der österreichische Literaturbetrieb nach 1945
- Author
- Stefan Maurer
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-23312-1
- Size
- 15.8 x 24.0 cm
- Pages
- 452
- Category
- Kunst und Kultur
Table of contents
- 1. EINLEITUNG: WOLFGANG KRAUS, EIN „KANTENLOSER HOMME DE LETTRES“? 9
- 2. DER ÖSTERREICHISCHE LITERATURBETRIEB NACH 1945 43
- 3. DIE ÖSTERREICHISCHE GESELLSCHAFT FÜR LITERATUR (1961–1975) 81
- 3.1 Gründung und Anfänge der Österreichischen Gesellschaft für Literatur 83
- 3.2 Einladungs- und Veranstaltungspolitik der ÖGL 98
- 3.3 Die ÖGL und das Konzept einer österreichischen Literatur 124
- 3.4 Die ÖGL und „Wort in der Zeit“ 142
- 3.5 Eine „Heimatadresse“? Die ÖGL und die Exilliteratur 155
- 3.6 Forum der Jugend 180
- 3.7 Bemühungen um die Literatur der östlichen Nachbarn 183
- 3.8 Resümee 190
- 4. „DAS MANAGEMENT REISST NICHT AB“. WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE LITERATUR 193
- 5. KONTAKTPERSON, VERMITTLER, DOLMETSCHER: WOLFGANG KRAUS UND DIE ÖSTERREICHISCHE KULTURPOLITIK 297
- 6. WOLFGANG KRAUS’ NETZWERKE IM KULTURELLEN KALTEN KRIEG 355
- 7. RESÜMEE 399
- 8. LITERATURVERZEICHNIS 403
- 9. PERSONENREGISTER 437